Bye, bye Hausarztpraxis.

Medizinische Versorgungszentren MVZ sind auf dem Vormarsch.

Immer weniger Medizinstudierende planen, eine eigene Praxis zu gründen. Investoren hoffen auf hohe Renditen der Gesundheitsambulanzen. Doch für Patienten können sie zu Nachteilen führen.

Bericht im Deutschlandfunkkultur Länderreport

Seit fast 30 Jahren betreibt Hausarzt Rudolf Gröner seine Praxis gemeinsam mit einem Kollegen. Beide über 60 Jahre alt. Mehrere Nachfolgekandidaten hat er sich angeschaut, die meisten sprangen von sich aus ab. Eines Tages kam das unerwartete Angebot:  

„Ich wurde von einem ärztlichen Kollegen angefragt, der mich anrief und sagt: Du, pass mal auf, du bist jetzt weit über 60, willst du mir nicht deinen Kassensitz verkaufen? Wir planen eine flächendeckende MVZ-Bildung unter meiner Führung, das so ganz Oberbayern durchziehen soll. Der hat jetzt, meines Wissens, gerade drei Praxen.“

Immer mehr medizinische Versorgungszentren in Oberbayern 

Seinen Arztsitz an ein medizinisches Versorgungszentrum verkaufen, vielleicht selbst dort noch einige Jahre mitarbeiten, ohne den Bürokram, die Abrechnungen?

„Ich denke, das wäre für meine Überlegung eine ganz angenehme Möglichkeit, noch bisschen tätig zu bleiben ohne die ganze Kümmerei, ohne die ganze Bürokratie und ohne jetzt diese ganze Verantwortung.“

Im näheren Umkreis von Rudolf Groener gibt es bereits eine ganze Reihe dieser ambulanten Gesundheitseinrichtungen, erzählt er. Eines vom Kreiskrankenhaus im nahen Schrobenhausen, daneben ein zahnmedizinisches Versorgungszentrum. Ebenso im benachbarten Pfaffenhofen zwei private MVZ, eines für Radiologie und eines für Inneres. In München zählt man sogar 31, einige von Kliniken, andere von Investoren geführt.

Groeners Kollege im Nachbarort Karlshuld musste vor wenigen Monaten aus familiären Gründen seine Praxis von heute auf morgen schließen. Der Arztsitz, also die begehrte Kassenzulassung, ging an das MVZ der Kreiskrankenhaus Schrobenhausen GmbH.

Hohenwart – ein Dorf ohne Arzt

„Das Thema brennt, es brennt uns halt auf den Nägeln, eben dahingehend, dass, wenn diese von der Kasse zur Verfügung gestellten Arztsitze weg sind, dass wir die dann nimmer nach Hohenwart kriegen werden.“

Wenig entfernt von Groeners Arztpraxis liegt das Rathaus von Hohenwart. Bürgermeister Jürgen Haindl weiß nicht, wo er derzeit zuerst anfangen soll. Dem Politiker der Freien Wähler macht die Gesundheitsversorgung seiner Bevölkerung zu schaffen.

„Wir haben uns mit den MVZs auseinandergesetzt, aber so wie wir das bis jetzt verstanden haben, ist so ein MVZ, rein verwaltungstechnisch, ein Monster.“

Er, also kleine Orte wie Hohenwart können das nicht leisten, sagt Bürgermeister Haindl: Ärzte bezahlen, Honorare abrechnen, Arzthelfer einstellen. Er denkt eher an ein Ärztehaus, die Kommune würde sich um die Räume kümmern, und die Ärzte arbeiteten weiter als Freiberufler.

200.000 Euro für nichts

„Wenn ich Medizin studiert hätte, was mir manchmal durch den Kopf geschossen ist, dann wäre mein Bild der klassische Landarzt: Ich sitze da draußen, habe meine eigene Praxis und kenne meine Patienten sehr gut und zu denen fahre ich raus. Das ist für mich das klassische Bild vom Landarzt. Offensichtlich ist das nicht praktikabel oder das will keiner mehr. Ja, wir kriegen diese Berichte auch aus unterschiedlichen Regionen und in unterschiedlichen Zusammenhängen, dass gerade Einzelpraxen von MVZs in letzter Zeit verstärkt aufgekauft werden.“

Sorgt sich Markus Beier, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes, der die Entwicklung seit geraumer Zeit beobachtet. Als praktizierender Hausarzt in Erlangen kennt er die Nöte der älteren Kollegen, die verkaufen wollen. Aber: Wenn viele Arztpraxen plötzlich nur noch zu einem Anbieter gehören, sei das ein Nachteil für die Patienten, meint er:

„Also es ist schon so, dass ich in unterschiedlichen Bereichen sehe, dass eben für ganze Versorgungsregionen – sei es jetzt augenärztlicher Bereich oder auch manchmal im hausärztlichen Bereich – dann wirklich Sitze jenseits der 20, und da können Sie ja dann eine Mehrzahl an Kolleginnen und Kollegen darauf anstellen, dass heißt, Sie haben letztlich für einen ganzen Versorgungsbereich ein riesiges Konglomerat in einer Hand. Das sind so Oligopolbildungen, also die können der Versorgung eigentlich zukünftig nur auf die Füße fallen.“

Dabei hat er ein Negativbeispiel vor Augen, das vor drei Jahren für Schlagzeilen sorgte: die Gemeinde Hohenkammer im oberbayerischen Landkreis Freising.

Kurzfristig schloss dort ein MVZ gleich alle drei Standorte im gleichen Landkreis. 2014 hatte die verantwortliche consensus med GmbH noch – zum Ärger anderer Ärzte, die von Wettbewerbsverzerrung sprachen – aus den Händen der CSU-Gesundheitsministerin Melanie Huml eine staatliche Förderung von 200.000 Euro für ein „innovatives medizinisches Versorgungskonzept“ erhalten. Hohenkammer, 2.600 Einwohner, hat bis heute keinen Arzt.

Arzt sein, nicht Unternehmer

Bei einem Treffen im Englischen Garten erzählt Jörg Franke von seinem Alltag im medizinischen Versorgungszentrum von Nephrocare, einem Dialysezentrum, und warum sich ein Arzt für eine Anstellung in einem MVZ entscheidet:

„Tatsächlich liegt mir persönlich der unternehmerische Teil nicht so sehr, und mein Interesse gilt eben mehr der Medizin und ich wollte meine Arbeitszeit auch auf diesen Bereich konzentrieren und mich nicht so sehr mit den unternehmerischen Sachen auseinandersetzen. Das ist auch eine Entscheidung, die ich heute wieder treffen würde.“

Nephrocare, eine Tochterfirma des fränkischen DAX-Unternehmens Fresenius Medical Care, betreibt ein dichtes Netz von MVZs in ganz Deutschland, von Berchtesgaden über Ellwangen, Berlin, Bielefeld bis nach Rostock, Hamburg und Münster. Laut eigener Webseite agiert Nephrocare auch in 35 weiteren Ländern wie Brasilien, Israel, Südafrika. Es werde den Ärzten durchaus geraten, die Produkte des eigenen Konzerns zu verwenden, erzählt Franke:

„Einfluss wird natürlich unter Umständen genommen auf Materialien, die man verwendet. Wenn der Arbeitgeber zum Beispiel solche Materialien vertreibt oder auch selbst herstellt, hat er ein Interesse daran, dass die eigenen Materialien verwendet werden. Aber in meinem speziellen Fall bin ich auch frei, wenn ich das medizinisch für notwendig halte, von anderen Herstellern zuzukaufen. Es ist für die Ärzte teilweise gar nicht möglich, durchzublicken oder mal zu gucken, wer steht denn eigentlich über meinem Arbeitgeber. Ich habe dann einen Arbeitsvertrag, da steht drauf MVZ XY GmbH. Also man steigt vielleicht noch durch, wenn die Klinik der Gesellschafter ist oder vielleicht auch ein kirchliches Haus.“

„Oft weiß ich aber gar nicht mehr, weil ich gar keinen Einblick habe, wer ist da eigentlich Dachgesellschaft oder wer steht da drüber“, warnt auch Elke Schels, Justiziarin vom Marburger Bund Bayern in ihrem Büro an der Münchner Theresienwiese.

Lieber im MVZ als in der Klinik arbeiten  

Immer weniger Medizinstudierende planen, eine eigene Praxis zu gründen. Der Arztjob im Krankenhaus inklusive Schichtdienst, Wochenenddiensten und Überstunden wird immer unattraktiver, also rücken die MVZ in den Blickpunkt junger Mediziner. Für sie sind die ambulanten Gesundheitszentren ein großer Vorteil – keine Schichtarbeit, keine Nachtdienste, Praxis von 9 bis 17 Uhr. Erkauft wird das häufig mit fragwürdigen Arbeitsverträgen, die rein gar nichts mit den Tarifverträgen der öffentlichen Hand zu tun haben.

„Ob das jetzt die Gehaltserhöhung ist oder die Gehaltshöhe, ob das Überstundenregelungen sind, die oft nicht drinstehen, Urlaub, Kündigungsfristen – das muss alles verhandelt und in diesem Arbeitsvertrag festgelegt werden. Und das ist schon komplex, auch für die Leute, klar. Das sind Ärzte, die haben mit dem erstmal nichts zu tun“, sagt Schels.

Der Münchner Medizinrechtsanwalt Andreas Zach hat das System der Kapitalinvestoren in medizinischen Versorgungszentren einmal schematisch dargestellt. Mit seiner umfangreichen Powerpoint-Präsentation fährt er immer häufiger von seiner Kanzlei in München-Bogenhausen zu Informationsveranstaltungen von Ärzteverbänden. Die meisten Mediziner sind überrascht von den Möglichkeiten der medizinischen Versorgungszentren, hat Zach beobachtet.

„Also bei einem MVZ können sie dadurch wachsen, dass sie Zulassungen hinzukaufen, in mehr oder weniger unbegrenzter Zahl, während die Einzelpraxis limitiert ist auf vier Zulassungen.“

Zusätzliches Bonbon: Beim Eintreten eines Arztes in ein Versorgungszentrum wird die eigene Zulassung unwiderruflich auf das MVZ übertragen und bleibt dort auch, wenn der Arzt wieder geht.

„Wenn man den Arzt allein sieht, muss man sagen, nutze diese Chance, zu verkaufen, weil: Deine Praxis wirst Du vielleicht so nicht mehr los. Andererseits muss man sich schon vor Augen führen, dass er durch den Verkauf die gesamte Struktur des Gesundheitswesens langfristig verändern wird.“

Kauf von Arztpraxen als „goldene Chance“

Ein Grund für den Unternehmensberatungskonzern McKinsey, in einem Strategiepapier von 2017 Finanzinvestoren den Eintritt in das europäische Gesundheitswesen wärmstens ans Herz zu legen: Das Paper „European healthcare – a golden opportunity for private equity“ spricht von einer „goldenen Chance für Private Equity-Anleger“, also Kapitalgesellschaften.

Zitat: „Die alternde Bevölkerung, das Streben nach besseren Präventivmedikamenten und die zunehmende Abhängigkeit vom Privatsektor, um die Gesellschaften bei der Bezahlung der steigenden Gesundheitskosten zu unterstützen, machen das Gesundheitswesen weiterhin zu einem geschätzten Sektor mit höheren Renditen als in den meisten anderen Branchen.“

Anwalt Zach: „Man macht sich dann auf die Suche nach einem Arzt, der ein MVZ gründen will. Damit gründet man ein MVZ, mit den Beteiligungsverhältnissen 49 zu 51. Das heißt, derjenige, der ursprünglich die Praxis angeschleppt hat, ist nur noch zu 49 Prozent beteiligt, wird allerdings abgefunden damit, dass er ungeheuer bedeutungsvoll als Geschäftsführer tätig ist, während der zweite MVZ-Gründer eigentlich gar nicht in Erscheinung tritt, aber eben die 51 Prozent hält. Dass heißt, da ist schon mal der Fuß in der Türe.“

Bei fast jedem fünften deutschen MVZ, den sogenannten investorengeführten medizinischen Versorgungszentren, seien die Finanzierungsverhältnisse unbekannt, hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV festgestellt.

Mehr Behandlungen als notwendig

Das bundesdeutsche Abrechnungssystem der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen in den einzelnen Bundesländern sei einmal für Einzelpraxen geschaffen worden und nicht für investorengeführte, international agierende MVZ-Ketten, betont Klaus-Martin Bauer, Geschäftsführer Marburger Bund Bayern.

„Das besondere Risiko besteht darin, dass man gesagt hat, man schafft den Rahmen, in dem auch ein klassischer Kapitalfonds halt agieren kann. Der agiert sehr konsequent und sehr professionell, so wie er es gelernt hat.“ 

Dass es in MVZs eher ums Geld und nicht um den Patienten geht, zeigen die Zahlen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung KZBV: Investorgeführte zahnärztliche Versorgungszentren zum Beispiel rechnen häufig 30 Prozent mehr pro Patient ab als herkömmliche Zahnarztpraxen, sprich: Den Patienten würden zusätzliche Behandlungen nahegelegt, die für das MVZ lukrativ, aber rein von der Diagnose nicht immer notwendig wären. Das zeigen zwei neue Gutachten des Berliner IGES Instituts sowie ein Rechtsgutachten von der Freien Universität Berlin.

Normale Arztpraxen verschwinden immer häufiger in medizinischen Versorgungszentren großer Kapitalgeber. Der Patient müsse aber erkennen können, fordert Markus Beier vom Bayerischen Hausärzteverband, ob das Versorgungszentrum von einem lokalen Arzt geführt wird oder von einem Kapitalfond aus dem Ausland. Die Politik könne einiges dazu beitragen, das zu verändern:

„Da gibt es viele Dinge, die unbedingt gemacht werden müssen: Transparenzregister – wer hält dieses MVZ wirklich? Dann auch eine Größenbegrenzung. Dann dafür sorgen, dass es wirklich auch nachweislich in der Hand von selbständigen, freiberuflichen Ärztinnen und Ärzten bleibt. Auch nochmal die Gründerschaft von MVZ überdenken, ob wirklich mit jeder kleinen Klinik, die man als Privatunternehmen aufgekauft hat, auch das Recht erwirbt, deutschlandweit MVZs zu gründen. Da fallen mir spontan etliche Dinge ein, die eigentlich nötig wären.“

Kleine Arztpraxen: ein Auslaufmodell? 

Sicher gäbe es diese schwarzen Schafe, sagt Peter Graeb. Er betreibt mit vier Kollegen ein MVZ an drei Standorten westlich von München. Aber ohne Finanzinvestoren. Die brauche er nicht, die will er nicht.

„Könnte ich, natürlich. Aber eines ist ganz klar: MVZ im kassenärztlichen Bereich, jetzt aus pekuniären Gründen, weil ich damit dickes Geld machen will, zu gründen, macht keinen Sinn. Es macht für Kliniken Sinn, die zum Beispiel operativ tätig sind.“

Hausarzt Rudolf Groener, hat sich letztlich gegen das System MVZ entschieden. Vielleicht sei er ein Auslaufmodell, sinniert er in seiner kleinen Arztpraxis im kleinen Hohenwart. Er fühle sich als Hausarzt – ganz old school – seinen Patienten verpflichtet und praktiziere weiter, solange es eben gehe.

ENDE