Leben ohne Geburtsurkunde.

Kampf um das Recht auf eine offizielle Existenz in Afrika

Zeremonie am Internationalen Frauentag 2025

Personalausweis, Reisepass, Geburtsurkunde – was in Deutschland für jeden Bürger selbstverständlich ist, ist in Indien, Bangladesh, Afghanistan oder Kamerun nicht die Normalität. Vor allem in den ländlichen Gebieten mit hohem Anteil an Hausgeburten ist es für Eltern oft schwierig, sich um die Registrierung eines Neugeborenen zu kümmern. 2019 veröffentlichte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF den Bericht „Birth Registration for Every Child by 2030: Are we on track?“. Dafür wurden Daten aus 174 Ländern ausgewertet. Äthiopien, Sambia und der Tschad verzeichnen weltweit die niedrigsten Raten bei der Geburtenregistrierung, so UNICEF. In Kamerun leben laut neuesten Zahlen vom Februar 2025 acht Millionen Menschen – auch Erwachsene – ohne Geburtsurkunde. Zum Beispiel in Madingring an der Grenze zum Tschad.

Zum Bericht im Deutschlandfunk hier.

Die Sonne steht am Morgen schon hoch am Himmel. Die Luft flirrt in der Hitze. Von den ungeteerten, weitläufigen Strassen und Plätzen weht Staub herüber. Hunderte von Frauen warten geduldig vor einer riesigen bunten Tribüne am Rande des kleinen Ortes Madingring – in Nordkamerun, an der Grenze zum Tschad.

Die örtlichen Behördenvertreter kommen vorgefahren: die Bürgermeisterin, der Unterpräfekt und der Vertreter des Lamido, des traditionellen Herrschers der Region.

Die Frauen halten Plakate und Schilder ihrer Organisationen in den Händen.

Es sind fast 60 Frauenvereine aus der gesamten Region gekommen, um die feierliche Zeremonie zum Internationalen Frauentag mit Musik, Tanz und einem langen feierlichen Umzug zu gestalten.

Sortieren von Geburtsurkunden vor der Verleihung

Vor Bürgermeisterin Marie Djenabou Mafing Gammi liegen im Schatten der Tribune dicke Stapel von Akten in unterschiedlichen Farben, mit Steinen beschwert, um sie vor dem Sahelwind zu schützen. 337 Geburtsurkunden werden an diesem Tag an Frauen vergeben. An junge Mädchen, an Mütter, an Großmütter.

Das ist gut für uns, weil wir jetzt viel mehr machen können, zum Beispiel ein Diplom, einen Schulabschluss. Wir können damit auch besser eine Arbeit finden.

Ja, ich habe zum ersten Mal eine Geburtsurkunde, wir sind sehr dankbar dafür, dass man uns geholfen hat. Wir haben bisher auch keinen Personalausweis, den können wir jetzt beantragen.

Diese zwei jungen Frauen halten stolz ihre Geburtsurkunden hoch, stellvertretend für alle 337, die in den kommenden Tagen zum ersten Mal ihre Personaldokumente von der Bürgermeisterin überreicht bekommen.

Im vergangenen Jahr konnte ich bei der Übergabe von über 2000 Geburtsurkunden in Rey Bouba, dem Sitz unseres traditionellen Herrschers, dabei sein.

Sagt die Bürgermeisterin.

Das war für mich die Initialzündung, mich auch hier bei uns in Madingring und Umgebung mehr um die Geburtenregistrierungen und Personaldokumente für die Bevölkerung zu kümmern. Wir haben alle Dorfvorsteher gebeten, uns eine Liste der Menschen ihrer Dörfer zu schicken, die keine Geburtsurkunden haben. Sie haben also herumgefragt und uns dann eine Aufstellung geschickt. Die rechtliche Aufsicht wurde vom Gerichtspräsidenten in unserem Nachbarort Tscholliré übernommen. Jetzt müssen wir vor allem die Bevölkerung mehr aufklären und dafür sensibilisieren, dass Eltern ihre Kinder gleich nach der Geburt registrieren lassen sollen.

Bürgermeisterin seit 12 Jahren in Madingring: Marie Djenabou Mafing Gammi

Die Registrierung von Geburten ist in den ersten drei Monaten kostenlos in Kamerun. Wenn der Vater nach traditionellem Verständnis eingetragen werden darf. Und wenn er sich dazu bekennt. Eine beglaubigte Kopie kostet wenige Euro. Das weitaus größere Problem in den ländlichen Regionen: Die Kosten für die Fahrt der Eltern zur oft weit entfernten Kommune. Ein Transport muss organisiert werden, ein Behördentermin. Wenn die Frist verpasst, dann wird es kompliziert. Und teuer. In zwei Verhandlungen muss vor Gericht die Elternschaft durch Zeugen bestätigt werden. Das ist für viele zu umständlich und nicht machbar. Auch Clementine Youkugou lebte jahrzehntelang ohne Papiere.

Ich heiße Clementine Youkugou. Mit dieser Urkunde wurden mir die Augen geöffnet, was damit alles möglich ist. Ohne sie war ich wie eine Blinde, jetzt kann ich einen Personalausweis, eine Carte d’identité bekommen und damit meiner Familie helfen.

42 Jahre lang lebte Clementine ohne Geburtsurkunde. Wie acht Millionen andere Kameruner im Land. Fuhr nie mit dem Bus weg, lebte in ihrem Dorf, zog die Kinder groß. Die Initiative der Bürgermeisterin nahm sie aber dankbar an. Mit einem Personalausweis könnte sie jetzt einen Telefonvertrag abschließen, könnte Geldüberweisungen per Mobiltelefon tätigen, wäre mobil erreichbar für Familie, Freunde und Bekannte. Ein neues Leben für diese Frau:

Julie

Ich bin 29 Jahre alt. Meine Eltern hatten nie das Geld, um diese Dokumente zu beantragen und haben auch nie die Notwendigkeit dafür gesehen. Wir haben immer zusammengewohnt, das wars. So bin ich aufgewachsen. Diese Geburtsurkunde jetzt in meinen Händen hat mir die Augen geöffnet, dass es auch anders geht.

Julie Nasambaye ging nie zur Schule, weil man für die Anmeldung und vor allem die Prüfungen eine Geburtsurkunde bzw. einen Personalausweis braucht. Das Dokument, das sie jetzt in den Händen hält, muss sie sich vorlesen lassen. Sie hat als Kind den Eltern geholfen, hat kleine Snacks auf der Straße verkauft. Ihre sechs Kinder wurde bislang auch nicht behördlich registriert. Das will sie jetzt ändern, um ihren Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Falls sie das Geld für die Schuluniform, die Schulbücher und andere Schulgebühren aufbringen kann.

Ich bin Bernadette Nelleman. Ich werde in Kürze 55 Jahre alt. Mit diesem Dokument werde ich erstmal meinen Personalausweis beantragen, damit kann ich dann verreisen. Ohne geht es nicht.

Bernadette besaß vor Jahren bereits einen Personalausweis. Früher, vor der Gesetzesänderung 2012, konnte die Carte d’Identité in Kamerun problemlos ohne viel Aufwand ohne Geburtsurkunde ausgestellt werden. Das ist vorbei. Die neue kompliziertere Antragstellung seit 2012 soll Missbrauch wie Datenfälschung und Identitätsdiebstahl verhindern, bewirkt aber vor allem, dass Menschen auf ihre Dokumente verzichten.

Ich kann nicht genau sagen, warum acht Millionen Menschen in Kamerun keine Geburtsurkunde haben.

Im örtlichen Amtsgericht des kleinen Ortes Tscholliré, gut drei Stunden über eine holprige Offroadpiste von Madingring entfernt, sitzt Gerichtspräsident Evele Karkou. Er hat immer mehr mit der Bewilligung und Kontrolle von Geburtsurkunden zu tun. Denn doppelt ausgestellte oder falsche Urkunden sind keine Seltenheit, sagen Kritiker.

Gerichtspräsident Evele (rechts) und Dr. Emmanuel Kobela (links) mit Autorin

Der Druck kommt nicht von der eigenen Regierung Kameruns, sondern von ausländischen NGOs und den Vereinten Nationen. Die hat schon in den 1990ern in der Kinderrechts-Konvention festgeschrieben, dass alle Menschen weltweit ein Recht auf eine Geburtsurkunde haben. Aber das ist in vielen Ländern noch immer keine Realität.

Ich weiß es nur aus meinem Zuständigkeitsbereich hier in der Region Mayo Rey: In erster Linie liegt es an der Bevölkerung, weil sie der Meinung ist, dass das Dokument nicht so wichtig ist. Das hat auch mit Unwissenheit zu tun und dann an den Entfernungen. Hinzu kommt, dass wir viele Entführungen haben, die Sicherheitssituation ist nicht gut, es gibt Überfälle auf den Straßen, deshalb nehmen die Menschen die Fahrt zur nächsten Registrierungsstelle nicht auf sich. Aber wir versuchen unser Bestes, um das zu verändern.

Für den Schulbesuch ist eine Geburtsurkunde obligatorisch.

Bestätigt Soeur Francoise, Missionsschwester des örtlichen katholischen Ordens von Tscholliré. Die Kinder der Grundschule seien alle registriert. Der Orden kümmere sich auch um die Registrierung der Waisenkinder. Das Personenstandswesen, wozu auch Geburtsurkunden gehören, versuche der Staat mittlerweile zu modernisieren, auch mit Hilfe des Auslands.

Im Gespräch mit Julie, Bernadette, Clementine und der Bürgermeisterin von Madingring

Kameruns Jugendorganisationen thematisieren die fehlenden Geburtsurkunden regelmäßig. Mit wenig Erfolg, meint Hamam Adama Abdel, Mitglied im Nationalen Jugendrat Kameruns. Ein Forum, das mehr als 14.000 Jugendorganisationen repräsentiert, die ähnlich zersplittert sind wie die politische Opposition.

Also, die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Jugendorganisationen gestaltet sich sehr vage, die Jugend steht nicht wirklich im Mittelpunkt von Entscheidungen, das heißt, die Regierung redet zwar immer davon, dass die Jugendlichen mit einbezogen werden würden, stattdessen stehen wir vor vielen Schwierigkeiten.

Der 32-Jährige stammt aus dem Norden, aus Rey Bouba und ist Präsident des Vereins „Zivile Aktion von Jugendlichen und Frauen für eine nachhaltige Entwicklung“. Die Situation in den ausgedehnten, ländlichen Gebieten sei nicht einfach zu lösen:

Das ist ein Phänomen mit den Geburtsurkunden. Die Jugendlichen können es sich einfach nicht leisten. Hinzu kommt: Früher kostete die Carte d’identité, also der Personalausweis, 2800 CFA Franc, jetzt sind es 10.000 Franc, also fast 20 Euro. Vorher waren es nur 7 Euro.

Mit der Verdreifachung der Kosten verspricht die Regierung des 92jährigen Staatspräsidenten Paul Biya die Ausstellung der Personaldokumente zu beschleunigen – auf nur noch zwei Tage. Die grundsätzlichen Probleme mit den Kosten, den Geburtsurkunden, den Entfernungen und dem fehlenden Wissen werden schlicht ignoriert.

Nomadenfamilie der Mbororo

Zurück in Nordkamerun. In einem kleinen Dorf kurz vor Madingring sitzen Frauen unter einem weitausladenden Baum. Ziegen laufen über die staubigen Dorfwege. Kleinkinder schlafen auf Bastmatten im Schatten. Sie haben keine Geburtsurkunden, ihre Mütter auch nicht.

Meine Geburtsurkunden ist bei einem Feuer verbrannt.

Sagt diese Frau auf Fulfulbe, der Lokalsprache der Bewohner der Nord-Region, und zuckt mit den Schultern. Sie habe sich auch nicht mehr gekümmert. Sie käme gar nicht aus ihrem Dorf heraus, wozu brauche sie da eine Geburtsurkunde:

Wir haben überhaupt nicht das Geld, nach Madingring zum Rathaus zu fahren, das kostet alles, und wofür?

Bei der Finanzierung von tausenden Geburtsurkunden erhält Kamerun auch Unterstützung aus dem Ausland. Neben den Vereinten Nationen, beteiligte sich z.B. auch das deutsche Bundesentwicklungs-Ministerium und die Weltbank. Denn mit Geburtsurkunden haben die Kinder und vor allem auch Frauen größere Chancen auf Bildung und Gleichberechtigung.

Aber unter diesem Baum, in diesem winzigen Dorf mit seinen Rundhütten aus schiefen Lehmziegeln, meckernden Ziegen, kargen Mais- und Hirsefeldern, im Dreiländereck Kamerun, Tschad und Zentralafrikanische Republik, wirkt eine Diskussion um Geburtsurkunden, die Übertragung westlicher Bürokratiestrukturen auf traditionelle, afrikanische Gemeinschaften, wie ein neokoloniales Vorhaben. Der Umbau von Entwicklungsländern nach den Vorgaben des globalen Nordens.

Während diese Frauen den Kopf schütteln, wollen einige junge Männer dieses abgelegenen Dorfes einfach nur weg. Sie wollen die grasgedeckten Rundhäuser hinter sich lassen, um in die großen Städte Garoua oder Yaoundé zu ziehen. Aber für ein Ticket im Überlandbus oder mit dem Zug benötigen sie einen Personalausweis, zumindest offiziell. Wer von der Polizei aufgegriffen wird ohne carte d’identité muss hohe Bußgelder bezahlen und wer das nicht kann, muss auch mal im Nirgendwo aussteigen. Ohne Papiere folgen auch nicht wenige den Versprechen von Schleusern Richtung Libyen, Mittelmeer und Europa. Das bessere Leben auf legalem Weg gibt es nur mit Geburtsurkunden und Personalweisen. Entsprechend hat das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen alle Kameruner Kommunen bei einem Runden Tisch im November 2024 für das Thema sensibilisiert.

Die Regierung kann es besser machen, es geht so langsam, langsam.

Der Kameruner Politikwissenschaftler Emmanuel Kobela beobachtet die Situation seit geraumer Zeit. Er verweist darauf, dass die Kommunen teilweise aufgrund der Vielzahl der Geburten gar nicht mehr hinterher kämen mit den Registrierungen, zumal die Mehrheit Hausgeburten sind, außerhalb von Kliniken. In Nordkamerun liegt die Zahl der Geburten pro Frau laut dem Statistikamt Kameruns im Durchschnitt bei sieben Kindern:

Im Süden zum Beispiel habe wir diese Probleme nicht, aber im Norden gibt es so viele Leute, die keine richtigen Dokumente haben. Man hat immer gesagt, das ist Aufgabe der Regierungspartei. Aber die Regierung macht nicht genug.

Unsere Regierung, die zuständige Ministerin hat Geld freigegeben, damit das Problem gelöst wird. Wir nehmen es in Angriff, aber das dauert, weil es sich seit Jahren angestaut hat. Man kann es nicht mit einem Klick lösen. Eine Geburtsurkunde ist nicht teuer, aber etwas muss jeder bezahlen, wie wir alle hier.

Erwidert der traditionelle Herrscher der Region, der Lamido Aboubakary Abdoulaye. Als Vizepräsident des Senats von Kamerun Teil der Regierung.

Kritiker werfen Staatspräsident Paul Biya eine bewusste Verschleppung eines modernen Personenstandswesens vor. Im Oktober 2025 sollen Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. Wer keine Personaldokumente hat, kann nicht wählen gehen. Millionen an Wählerstimmen, vor allem aus den abgehängten ländlichen Gebieten, fehlen. Von den geschätzten 35 Millionen Einwohnern des Landes waren bei den letzten Wahlen nur 3,5 Millionen wählen. Die aus dem System fallenden Nomadenstämme, die Mbororo, sind da noch gar nicht eingerechnet.

Millionen wird eine Teilhabe an demokratischen Prozessen verwehrt. Oppositionsparteien haben noch weniger Chancen gegen die Regierungspartei und den seit 1982 trotz regelmäßiger, oft umstrittener Wahlen regierenden Staatspräsidenten Paul Biya.

Zeremonie mit Bürgermeisterin, Förderin Elke Scheiner von AFEMDI Deutschland und Autorin (von links)

Auf dem staubigen Platz vor der Tribune von Madingring stimmen die Frauen der fast 60 lokalen Frauenorganisationen in der Mittagshitze ihr Lied an. Es ist die landesweite Frauenhymne, die im Juli 2021 zum ersten Mal auf der 1. Nationalen Frauenkonvention für Frieden in Kamerun gesungen wurde. Ein Aufruf an alle Frauen des Landes, aus dem Schatten zu treten, frei zu leben, gleichberechtigt nebeneinander zu stehen. Ein Lied für Frieden, Entwicklung und Gleichheit. Eine Hymne der Hoffnung.

Später werden die Frauen ihre handschriftlich ausgefüllten Geburtsurkunden stolz in die Kameras halten. Ob sie sie nun lesen können oder nicht.

Die 337 Geburtsurkunden wurden von Spendengeldern aus Deutschland des Vereins AFEMDI Deutschland finanziert. Die Vorsitzende Elke Scheiner ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande, des Engagementpreises Deutschlands, des Chevalier des Arts et des lettres Cameroun, des TANG-Award of Excellence.