Der Sonderwirtschaftsraum Kaliningrad im Herbst 1997
Seitdem das Kaliningrader Gebiet 1991 für Ausländer geöffnet und eine Freihandelszone eingerichtet wurde, erhoffte sich die russische Regierung einen wirtschaftlichen Boom in seiner Exklave, ausländische Investitionen , ein kleines Hongkong mitten in Europa.
Im Herbst 1997 sieht die Situation, nüchtern gesehen, schlechter aus als vor Perestroika und Gebietsöffnung.
Der Sonderwirtschaftsraum Kaliningrad im Herbst 1997.
Die Nacht ist schwarz im nördlichen Ostpreußen, nicht dunkel, nein schwarz ist sie, wie das Weltall. Nirgends hängt die Lichtglocke einer Großstadt am Horizont, wie man es von Deutschland her gewohnt ist, selbst von Kaliningrad, der absolut größten Stadt dieses Gebietes dringt nur ein schwaches Leuchten herüber. Wenige Meter reichen die Scheinwerfer der Autos, die sich an den weißberingten Alleenbäumen entlangtasten. Die Nacht erzwingt Geduld, Geduld mit den frei umherlaufenden Kühen und den schlecht beleuchteten russischen Wagen. Erleuchtete Gardinen schweben über der Erde, das Haus dazu verschwindet im Undurchdringlichen. Hier sollte man den Weg kennen, den man fahren will, oder man bringt viel Zeit mit.
Ostpreußen verlangt Zeit.
6 Jahre ist es jetzt her, daß dieses Land für Ausländer geöffnet wurde und doch hat man das Gefühl, die Jahre sind hier Minuten. Daran konnte auch die Schaffung einer Freien Wirtschaftszone 1990 bislang nur wenig ändern. Investoren kamen nur zögernd, ungefähr 1100 Joint Venture werden derzeit gezählt, jeweils ein Drittel mit polnischer und ein Drittel mit litauischer Beteiligung. Rußland hat bereits erhebliche Steuererleichterungen für seine Exklave erlassen, doch die im Mai vorigen Jahres beschlossene Zoll- und Mehrwertsteuerbefreiung ist nach Meinung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages bislang noch nicht wirksam geworden. Investitionsfördernd wirkt dafür die Abschaffung der doppelten Zölle, was vor einem Monat zum Beispiel eine estnische Konditoreifabrik dazu ermutigte, ein großes Aktienpaket von „Tscharodejka“, dem größten Bonbonhersteller des Kaliningrader Gebiets zu erwerben.
Der Rektor der Staatlichen Universität von Kaliningrad, Gennadi Feodorov, hatte vor einem Jahr ein optimistisches, ein pessimistisches und ein realistisches Drehbuch bis 2010 erarbeitet, bei der er von der wirtschaftlichen Lage des Jahres 1990 ausging. Mittlerweile kommt das realistische Drehbuch der Wirklichkeit ziemlich nahe…es geht für nächstes Jahr von 38% der Vorwendeproduktion in Industrie und Landwirtschaft aus.
Doch was auf höchster wirtschaftlicher Ebene geschieht, erfahren die einfachen Leute dieser Gegend nur selten. Daß die Schweiz der größte Investor bei ihnen ist und auch Irland hohen Anteil an Direktinvestitionen hat, hilft nur wenigen – der Lebensstandart auf dem Lande liegt unter der Armutsgrenze von 200.000 Rbl. im Monat, das sind 60,-DM im Monat, der Kurs liegt bei 1:3326.
Der Stall, in dem Irina arbeitet, gehört zu dem Gestüt Majowka, früher Georgenburg. In ihrem blauen Arbeitskittel wirkt die Frau schmächtiger und älter als sie wahrscheinlich ist, trotzdem strahlt sie, wenn sie über ihre Arbeit erzählt:
Also, ich habe früher in einem Werk in Insterburg gearbeitet, aber da jetzt viele Großbetriebe pleite gingen, mußte ich mit der Arbeit aufhören und arbeite nun in diesem Gestüt.
Wie gefällt ihnen die Arbeit hier?
Die Arbeit ist sehr interessant, die Pferde sind wie Kinder, es ist sehr interessant, ich glaube, wenn man hier arbeitet, gefällt es einem auch, es kann ncht anders sein, obwohl die Arbeit für uns Frauen hier sehr schwierig ist.
Ist das Ihre einzige Arbeit, die Sie hier machen?
Ja.
Kann man davon leben?
200.000, 250.000 Rubel bekommen wir hier, man muß irgendwie auskommen damit. Wir haben auch eine kleine Landwirtschaft, einen kleinen Gemüsegarten, haben Kühe. Da bleibt einem nichts anderes übrig. Ja, Gott sei Dank, daß ich jetzt hier arbeiten kann, so kriege ich wenigstens etwas.
Sie ist eine von 150 Angestellten des Gestüts, eine von den vielen Rentnern, die die Leiterin Galina Alexenkowa eingestellt hat…mehr aus Nächstenliebe als aus Notwendigkeit:
Natürlich, das stimmt auf jeden Fall. Wir haben hier sehr viele Rentner, die das ganze Leben lang auf dem Gestüt gearbeitet haben. Sie bekommen eine ganz kleine Rente und deswegen sollen sie hier weiterarbeiten, damit sie mehr bekommen. Die eigenen Leute, alles Bekannte, die kann man nicht einfach rausschmeißen.
Die Gelder, die Löhne und auch die Kosten für den Wiederaufbau der vor kurzem durch Brandstiftung ausgebrannten Gebäude kommen größtenteils aus Moskau, wenn denn die Überweisungen klappen:
Also zur Zeit gilt das Gestüt als halbstaatliches Unternehmen und bis 1995 haben wir auch Zuschüsse von der Regierung für Mutterstuten bekommen. Im vorigen Jahr haben wir aber keinen Pfennig gekriegt. Und zur Zeit werden diese Gelder gesucht. Moskau hat gesagt, daß die Gelder auf die Region Kaliningrad überwiesen wurden, aber wo das Geld abgeblieben ist, weiß keiner. Die einzige Hoffnung ist zur Zeit unser Gouveneur Gorbenko, er hat Hilfe versprochen und wir hoffen da jetzt drauf.
Hoffnung, so scheint es, ist das größte Kapital des Kaliningrader Gebietes, des alten Ostpreußen.
Mit ihr wurden viele der halbfertigen Bauruinen begonnen, die im ganzen Land anzutreffen sind. Im Kaliningrader Stadtgebiet gibt es , folgt man der Lokalpresse, 66 dieser ewigen Baustellen mit insgesamt 235.000 Quadratmetern Grundfläche, zumeist Einfamilienhäuser, deren Bauherren das Geld ausgegangen ist. Über eine Versteigerung der Immobilien wird nachgedacht. Doch die Hoffnung auf Geld bleibt.
Dieses Überlebensrezept gilt auch, oder gerade für junge Leute, die auf sich aufmerksam machen wollen. Zu ihnen gehört Konstantin Morosov. Er kam vor 3 Jahren von Kirov am Don in die Nähe von Jasnaja Poljana, um Pferde zu züchten. Da aber dieser Ort früher einmal Trakehnen hieß, hat sein Unternehmen bereits Unmut in der Umgebung ausgelöst… im Sommer wurden vier seiner 32 Tiere nachts auf der Weide getötet.:
Also, jemand von der hiesigen Bevölkerung war es, die Leute hier in der Gegend sind nicht so warmherzig. Natürlich sind sie neidisch, wir wollen hier die alten Traditionen beleben, damit das Land auflebt, da ist es unverständlich, warum die Hiesigen so etwas machen.
Der hagere, junge Mann will an seiner Idee festhalten, er ist von seiner Bestimmung überzeugt:
Vor allen Dingen, weil diese Pferdezucht auf historischer Stelle angefangen wurde, auf dem ehemaligen Paradies der Pferde. Und außerdem standen hier auch noch verschiedene Stallungen vom alten Trakehnen.
Aber Sie sind doch kein Deutscher, warum fühlen Sie sich dieser Tradition verbunden?
Nein, natürlich nicht. Wir lieben einfach die Pferde und wollen hier nur alte Traditionen fortsetzen. Ich bin selber Reiter und werde nächstes Jahr auf dem Turnier unsere Firma „Konstantin Morosov“ vertreten.
Eigeninitiativen wie diese brauchen Zeit und Durchhaltevermögen. Doch als junger Mensch hat man beides nicht allzu häufig – in der Pferdezucht wohl ebenso wenig wie im Bernsteinhandel, diesen beiden klingenden Mythen des ehemaligen Ostpreußens.
Alexander ist Mitte 20. Kurzhaarig, durchtrainiert und in fast allen Reisebussen, die Richtung Küste fahren anwesend, versucht er überteuerten Bernsteinschmuck an der Frauen Ohren , Hals oder Bluse zu bringen. Eine eher peinliche Angelegenheit für den gelernten Schiffsingenieur:
Mein Direktor kauft den Bernstein in Palmnicken im Kombinat und drei Leute handarbeiten die Broschen, Ketten, Haarreifen, Ohrringe und drei Leute verkaufen.
Alexander hatte nach seinem Schulabschluß 1986 und einem Jahr Militärschule in Sankt Petersburg Elektriker gelernt, war nach seinem Studium 3 Jahre in Pillau auf einem Militärschiff gewesen und kurz darauf auf einem Fischerschiff, bis er arbeitslos wurde und das Bernsteingeschäft anfing:
Vor 6 Jahren hatte ich im Zentrum ein Geschäft, jetzt arbeite ich nur privat, wenn ein Bus kommt, das ist besser. Das kostete zu teure Rente.
An Bernstein habe ich viele Sorten, die dritte ist billig, ein Kilo kostet 200-300 Dollar, die erste Sorte ist teurer, 600-900 Dollar das Kilo.
Der Regen peitscht das Meer unerbittlich an der Kurischen Nehrung. Mit Autoreifen wird hier versucht, die Küste zu schützen, doch das Meerwasser ist stärker. Vor einigen Wochen gelang es der Ostsee sogar, die Trinkwasserversorgung von Kaliningrad lahmzulegen – aus den Leitungen kam nur noch Salzwasser.
Dieses Wetter ist man aber auf der Nehrung gewöhnt. Die Mitarbeiter der alten Thienemann-Vogelwarte von Rybatschij, früher Rositten, flicken ziemlich häufig ihre riesigen Vogelfangreusen aus alten Fischernetzen. Gemeinsam mit deutschen Kollegen kontrollieren sie hier die Gesundheit, das Alter und die Überlebenschancen der Vögel. Dies scheint wie ein Luxusunternehmen, wo das Land mit seiner Wirtschaft und seinen eigenen Leuten um das Überleben kämpft.
Gleich neben der Backsteinkirche von Rositten wohnt Vera, ein altes, rundliches Mütterchen. Trotz des Herbstregens steht sie an das Gartentor gelehnt, entwaffnend offenherzig:
Ich wohne hier seit 1948. Ich kann ein wenig deutsch..eins, zwei, drei…habe ein bischen deutsch gelernt früher, habe aber nicht viel behalten.
Sind sie Fischersfrau oder wovon leben sie hier jetzt?
Wir sind hierher von der Wolgaregion gekommen. Wir haben hier sozusagen von null angefangen, da gab es keine Tasse, keine Kabel, mußten das alles selber regeln. Mein Mann war kein Fischer, sondern Wirtschaftsmitarbeiter, also Ökonomist.
Was arbeiten Sie? Sind sie nur zu Hause?
Jetzt bin ich Rentnerin, aber während meines langen Lebens habe ich hier überall gearbeitet, habe auch Fischernetze gemacht, im Heizhaus geearbeitet, also überall eigentlich.
Wie sieht es denn mit der Jugend aus in Rositten? Wandern sie sehr ab?
Also zum größten Teil bleiben die Jugendlichen hier, sie beschäftigen sich mit Fischfang, aber so große Ahnung habe ich davon nicht.
Kann man denn vom Fischfang leben heutzutage?
Ja, eigentlich kann man, nicht so gut, aber, naja, man kann auskommen, wenn man sich mit Fischfang beschäftigt.
Bekommen Sie jetzt Rente?
Ich bekomme keine große Rente, nur 200.000 Rubel, so wie alle anderen auch.
Und wie versuchen Sie mehr Geld zu bekommen?
Naja, wir leben doch. Wir müssen irgendwie auskommen, Hauptsache das Geld reicht fürs Brot und sonst…natürlich mangelt es immer an Geld, vielleicht bekommen wir noch Zuschüsse von der Regierung, aber wer weiß – wir leben doch. Mein Mann war auch im zweiten Weltkrieg, hat an dem Sturm auf Königsberg teilgenommen, so sind wir hergekommen und leben hier, ich habe vier Kinder, zwei von ihnen leben im fernen Osten, da bei Wladiwostok.
Vom Meer zurück ins Inland, auf die Felder. Die Getreideernte ist seit längerem beendet. Die Bilanz: Der durchschnittliche Ertrag pro Hektar betrug zwei Tonnen, die Ernte konnte um 30% gegenüber dem Vorjahr erhöht werden, insgesamt waren das 218.900 Tonnen, mit denen eine erste Tilgungsrate für den im Frühjahr vergebenen Warenkredit der Gebietsverwaltung abgegolten werden konnte.
Diese Statistik sagt wohl nur einem echten Landwirt etwas, eine Fahrt übers Land spricht deutlicher.
Für Deutschland unvorstellbar, für das alte Ostpreußen Realität, sind die riesigen Weiten verstepptes Land. 60% der landwirtschaftlichen Flächen sind betroffen. Den frei umherlaufenden Kühen geht das Unkraut bis zu den Lenden, ein Kuhhirte treibt seine Herde vom Pferd aus über die ehemaligen Felder. Nach Einschätzung von Agrarexperten bräuchte diese Erde 12 Jahre, um wieder durchschnittlichen Ertrag zu bringen. Um dieser unaufhaltsamen Versteppung etwas entgegenzusetzen, gibt es seit August den §3 des Gouverneur-Erlasses 641 „Über den Schutz der einheimischen Getreideproduktion“, der die Einfuhr von Mehl, Brot und Bohnen, Viehfutter, Roggen und Weizen aus dem Ausland verhindern soll. Doch der Einspruch von 165 Kleinbäckereien bewirkte, daß sich die Kaliningrader Zollverwaltung seit Ende September weigert, den Erlaß 641 zu befolgen, d.h. Mehl und andere Getreideprodukte können weiterhin eingeführt werden.
Eine junge Russin, Tanja Udovenko, 1970 in Kaliningrad geboren und jetzt bei der litauisch-russ.-dt. Tourismusunternehmen „Ideal Service“ tätig, faßt die Schwierigkeiten dieser russischen Region knapp zusammen:
Naja, weil diese Region am westlichsten Punkt liegt, wahrscheinlich, ganz weit von Rußland entfernt. Zwischen Grenzen von allen seiten. Wir waren mal in der Ukraine und hatten ein Treffen dort mit Schülern und dann haben die uns gefragt, wo kommt ihr her: Aus Kaliningrad. Wo liegt denn das? Also sogar keine Ahnung, wo das liegt. Naja, obwohl es Rußland ist. Das Kaliningrader Gebiet ist Freihandelszone geworden, schon vor 6 Jahren, da mußte man hier günstige Bedingungen schaffen für Investoren, aber mit userer Bürokratie geht es nicht so schnell alles, deswegen. Und dabei, wegen der politischen Situation allgemein in Rußland machen sich die Investoren auch Bedenken, die Gesetze ändern sich immer und dann betrachtet man das Gesetz wie man es will, also keine festen Vorschriften.
Keine festen Vorschriften, dadurch Spontanität und Unsicherheit – so könnte man vielleicht das derzeitige Leben im Kaliningrader Gebiet kennzeichnen. Vom Hongkong Europas ist es sehr weit weggerückt, von der Kulturlandschaft Ostpreußens ebenso, aber darum geht es hier nicht.
Romantisch gesehen gibt es keinen Flecken in Europa, der so unaufhörlich seinem Urzustand, seiner Natürlichkeit zustrebt wie das Kaliningrader Gebiet, realistisch gesehen gibt es keine historisch wie wirtschaftlich so ausgebrannte Erde wie den kaliningradskaja oblast, diesen noch immer wichtigsten Sonderwirtschaftsraum Rußlands.
(Bayern 2, Ost-West-Report 11.10.& 4.12.1997, Bayerischer Rundfunk)