Vergiss Ibiza. Auf zur Rave-olution!

Techno-/House-Musik zwischen Kommerz und politischem Anspruch

Tanzen als Protest. Vom politischen Anspruch zur Partymeile

Tomorrowland 2024
Feature für das Radiokolleg Ö1 Techno-Serie

Ob als Hardpop-Club an der mexikanisch-texanischen Grenze, als Bassiani in Georgien mit seiner kämpferischen LGBTQ-Community, die factory-people in Beirut, die trotz Existenzängsten Technoparties für Zehntausende im Krisengebiet veranstalten, auch in Damaskus wird wieder geravt – die ursprüngliche underground-Kultur des Techno war das Versprechen einer besseren, reformierbaren Welt. Rumänien lädt zum Untold-Festival, Kasachstan lockt das internationale junge Publikum zum Satisfaction-Festival, Usbekistan hat das STIHIA und in Albanien tanzt die Jugend auf dem UNUM-Festival. Techno- und House Musik kann aber auch anders. Die progressive Jugendkultur des Techno und House wird in islamischen Staaten wie Saudi-Arabien/mdlbeast und Dubai für ein modernes, hippes Image benutzt. Über allem steht die Mutter der Techno-Szene, das Tomorrowland-Festival, das 2024 sein 20. Jubiläum feierte und den Nachwuchs für die Bühnen von Ibiza, aber auch Beirut, Tiblisi und Ciudad Juarez heranzieht. Ohne politische Message. Oder doch?

Seit jetzt 20 Jahren hat sich im belgischen Örtchen Boom ein House- und Techno-Szenetreff entwickelt, der mittlerweile gigantische Ausmaße annimmt: Auf dem Festival für elektronische Musik mit dem sprechenden Namen Tomorrowland flattern pittoreske Schmetterlinge über die Hauptbühne von enormen 43 Metern Höhe und einer Länge von 160 Metern. Es rauschen echte Wasserfälle durch die Kulissen, riesige Pilze und üppige Blumen werden von eigens engagierten Bühnenbildnern gefertigt, eine Mischung aus Traumwelt, Happyversum und kugeläugigem Unschuldsversprechen – eine gewaltige Illusionsmaschine, die da seit 20 Jahren auf das riesige Erholungsgelände der kleinen belgischen Stadt Boom bei Brüssel geklotzt wird, damit unzähligen Verkaufsständen mit veganen, vegetarischen und internationalen Gerichten, penibler Mülltrennung, einer eigenen Währung und eigenen Camping- bis Glampingplätzen:

Das unglaublichste hier ist, wie nett die Leute miteinander umgehen, wie gut sie drauf sind und einfach gemeinsam die Zeit genießen.

Ich finde all die Fahnen und Flaggen aus der ganzen Welt faszinierend, und wie die Menschen einfach den Moment genießen. Wir sind alles Menschen einer Welt.

Überall die freundlichen Menschen, jeder ist glücklich, eine große Familie.

Anders als im Libanon, in Georgien oder Mexiko wird hier mit EDM- electronic dance music – eine perfekte Zukunftswelt für die internationalen Fans imaginiert, jenseits nationaler, politischer Krisen. Ein märchenhafter Gegenentwurf zu einer sich immer stärker polarisierenden Welt. Die einfache Message: „Live today, love tomorrow, unite forever“. Dafür wird für zwei Wochenenden ein umfassender Sicherheitskordon rund um das Festivalgelände gezogen, massive Polizeikontrollen und Straßensperren inklusive. Wer Tickets für bis zu 600 Euro zahlt, darf teilnehmen an dieser Traumwelt. Tatsächlich ist es eine knallharte Kommerzialisierung der ursprünglich als underground-Szene gestarteten Protestkultur:

Die Leute kommen von überall hierher mit ihren sehr unterschiedlichen Meinungen bezüglich Sexualität oder Herkunft, aber sie kommen hier zusammen und lernen, dass es in Ordnung ist, anders zu sein, eine andere Hautfarbe oder sexuelle Ausrichtung zu haben, das feiern wir hier, das ist die wirklich wichtigste Message von Tomorrowland und auch anderen Musikfestivals, die ich sehr unterstütze, ohne selbst zu politisch zu werden.

Friede, Freude, Heiterkeit – die Krisen weltweit einfach vergessen, dafür sei das Festival einmal geschaffen worden, sagt der niederländische Trance- House-Künstler Armin van Buuren, einer der bestbezahlten Künstler der Szene. Er gehört zu den EDM-Spitzenmusikern, tritt weltweit auf – in Mexiko, in Polen, in Rumänien, aber vor allem auf Ibiza. Dessen Musikkultur und Clubs entstanden in den 60er auch einmal aus einer Aussteigerkultur von amerikanischen Hippies. Das Verbot ausländischer Bands in Spanien unter Diktator Franco beförderte die undergroundkultur auf der Insel und Ibiza wurde Ende der 70er bis zum Anfang der 80er Jahre ein Spielplatz für musikalische Experimente.

Heute trifft sich auf der Mittelmeerinsel der High-Society-Jetset, feiert vor allem sich selbst. Von dem Aussteigermythos, den underground-Anfängen ist praktisch nichts mehr geblieben. Das wissen die Macher der Ibiza-Clubs, aber auch des belgischen Tomorrowland-Festivals. Sie bringen ihre Konzepte seit einiger Zeit an neue Orte, neue Hotspots, suchen neue Festivalplätze teils an spektakulären Orten. In Kürze gibt es eine Dependance des Ibiza-Clubs Ushuaiia in Dubai. Man schaue sich nach weiteren Standorten um, so Tomorrowland-Sprecherin Debby Willemsen:

Wir schauen Richtung Thailand und planen vielleicht noch ein Festival in Mexiko und Kolumbien. Wir besitzen eine mobile Bühne, die relativ einfach zu transportieren ist, die kann verschifft und schnell aufgebaut werden, zum Beispiel in Afrika oder warum auch nicht in Saudi-Arabien, das ist alles machbar.

Das House- und Technofestival Tomorrowland: Aus fünf Bühnen 2005 wurden bis heute 16 Bühnen. Ein gigantisches Spektakel, gekleidet in die scheinbar heile Welt des verspielten Jugendstils des 19. Jahrhunderts. Das genaue Gegenteil von der Clubkultur, aus der die Technoszene entstammt.

Man kann ja nicht von der einen homogenen Techno- oder Ravekultur sprechen, das muss man sich schon genauer anschauen.

Sagt Kultursoziologe Lorenzo Gilli. Er forscht zur EDM-Kultur, wie sich aus den ersten Auftritten von Künstlern wie der deutschen Band Kraftwerk, oder auch aus der klassischen Musik kommenden Komponisten wie Karlheinz Stockhausen die elektronische Musikkultur entwickelte. Anders als in der Punkszene oder der Hiphop-Kultur startete die Technoszene in den 90er Jahren richtig durch, zb mit der Loveparade in Berlin, die eigentlich als Demonstrationen begann und zehn Jahre später, als die Protestthemen fehlten, kläglich einging:

Jetzt ist die EDM- oder Rave-und Technokultur ja in den 90er Jahren schon genau in die Postmoderne reingefallen. Also dieser monolithische Block einer Mainstreamkultur, den gibt es ja in der Form nicht mehr, zumindest nicht in dieser starren, monolithischen Form nicht mehr.

Man könne EDM-Festivals wie das Tomorrowland nicht wirklich mit der 68er Hippie-Kultur vergleichen oder als Woodstock des 21 Jahrhunderts bezeichnen, ist Gilli überzeugt. Was die Techno-Bewegung so erfolgreich macht, sei die Universalität der Botschaft, wie sie in den undergroundclubs entwickelt wurde: „Love, peace, unity, respect“. Im georgischen Technoclub Bassiani wurde daraus „Dance together, fight together“.

Der Erfolg und weltweite Siegeszug der EDM-Musik basiere auch auf dem Verzicht von Songtexten. Die EDM-Musik kommt fast ohne Worte aus, erklärt der Musikjournalist des Szene-Magazins DJMag Henri Johna. Deshalb ist Techno/House auch für autoritäre Regime tolerabel. So gibt es seit kurzem wieder Rave-Events in Damaskus/Syrien:

Auch in Systemen, in denen jetzt „Peace, love, unity and respect“ vielleicht nicht groß geschrieben werden, auch dort wird elektronische Musik gern gehört. Auch dort kommen kulturelle Aspekte davon in die Region. Ich bin der festen Auffassung, dass derjenige, der das Gemeinschaftsempfinden auf einem Festival erlebt, das auch mitnimmt in den Familienalltag, in den Arbeitsalltag, der nimmt das auch irgendwann mit in die Kultur vor Ort.

Also zum einen glaube ich wirklich, dass in den Erlebensformen, die Techno und Rave zur Verfügung stellt… eine Clubnacht oder auch ein Wochenende in einem Club zu verbringen ist schon auch eine komplett andere Erfahrung als auf einem Konzert von Helene Fischer oder Taylor Swift oder Popkonzert oder ACDC.

Ergänzt Kultursoziologe Gilli:

Da steckt eine Attraktivität drin, die über einen reinen Hedonismus hinausgeht, die eine Selbsterfahrungsqualität mit beinhaltet.

Techno- und House-Events sind zum Exportschlager geworden. DJs der harten Rhythmen wie der Mexikaner Hector Murillo, Betreiber des Hardpop-Club in der mexikanisch-texanischen Grenzstadt Ciudad Juarez, treten am saudischen Königshof auf, der saudische Veranstalter MDLbeast organisiert Rave-Festivals, um das Königreich für das internationale junge Publikum fit zu machen. Political greenwashing. Auch die Emirate sind auf den Trend aufgesprungen, holten im Januar das rumänische Untold-Festival nach Dubai, mit dabei der Tomorrowland-Superstar Armin van Buuren:

Ich weiß nicht, ich will da gar nicht zu politisch werden. Mir geht es vor allem um meine Fans, wir sollten das nicht überbewerten. Ich war in Ländern, wo meine Mutter meinte, musst Du da hin? Also in den Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten, aber meine Fans wollen einfach nur meine Musik hören. Das ist in gewisser Hinsicht schon auch politisch, zu zeigen, dass wir alle Menschen sind und gemeinsam feiern können. Bei all den politischen Krisen heute, dem Rechtsruck in vielen Ländern ist das Wichtigste, in Kontakt zu bleiben. Miteinander zu reden.

Magnum-Champagnerflaschen auf den VIP-Decks, Eintrittspreise von bis zu 624 Euro, Camping ab 381 Euro – die Kommerzialisierung der Traumwelt hat die Botschaft von vor 20 Jahren längst überrollt. Das Tomorrowland ist längst an seine Grenzen gekommen. Auch musikalisch. Von den 800 gebuchten Künstlerinnen und Künstlern verlieren sich viele in durchhörbaren mash ups alter Hits aus den letzten 30 Jahren, wie dem Polarkreis 18-Hit „Allein, allein“.

Ich glaube, Trends entstehen immer an den Rändern der Gesellschaft, jeder der mal auf Ibiza weiß, das ist nicht der Rand der Gesellschaft. Wer was Neues sehen will und sehen will, wohin sich die Techno-Welt entwickelt, der ist gut aufgehoben in Tulum, auf neuen Festivals in Albanien, in Georgien, in Rumänien ist es auch schon etablierter, ja, aber es gibt super spannende Spots auf der ganzen Welt.

In Berlin im Archiv der Jugendkulturen forscht man zu den Gründen für den Technohype. Einerseits kann es an jahrhundertalten Trommel-Trance-Traditionen liegen, sagt Daniel Schneider. Andererseits die Aufladung der House-EVents mit politischen Botschaften:

Das findet man immer wieder, dass es eine Verbindung zwischen Politik und Clubkultur gibt, gerade hier in Berlin. Wenn es Beteiligung an der Stadtentwicklung geht oder beim Wegbassen von der AFD. Anders gesagt, Techno kann alles ausfüllen, es kann komplett inhaltsfrei sein, einfach nur reines Vergnügen sein, einfach tanzen, aber es kann dann mit Inhalten aufgeladen werden, weil es so inhaltsleer ist.

In Österreich gibt es diese Verbindung institutionell in Graz, beim Springfestival, das dieses Jahr mit der Detroit Halle unter der Helmut-List-Halle einen neuen Techno-Tempel bekommen hat. Aber auch in Seefeld in Tirol wird jetzt das alte Schloss für Techno-Events geöffnet. Rave im Schloss-Veranstalter Masi Kohestani organisiert rund um München die unkonventionellsten Rave-Partys, zuletzt in der Alten Börse am Stachus, in der Techno-Villa. Er selbst stammt aus Afghanistan, aus Kabul, kam mit seinen Eltern nach Deutschland und gehört zu den schillerndsten Vertretern der Raveszene in Bayern. Sein größter Traum wäre irgendwann einmal ein Rave in Afghanistans Hauptstadt zu organisieren. Love, peace, unity respect.

Tatsächlich ist Techno nicht das Problem für Europa, sondern Europa das Problem für Techno. Durch die Regularien des Staates ist es wirklich schwierig. Gerade als Veranstalter versucht man den schmalen Grad zwischen kommerziell und underground, aber will beides irgendwie bedienen. Das Problem ist, warum man hier die Chancen nicht nutzt, weil das Bauamt sagt, die Stufe ist da ein wenig zu hoch, da könnte ein Gast stürzen.

Der erste Rave im Schloss von Seefeld Anfang September 2024 In einer spektakulären Landschaft wurde von der neuen Bürgermeisterin Andrea Neuner problemlos genehmigt. Nachdem die Gemeinde unter Zwangsverwaltung gestellt wurde, ist sie auf Einnahmen angewiesen. Eine Chance für die Technoszene, ihre Kultur auch aufs Land zu bringen. Afghane Kohestani sieht darin eine Chance gegen Rassismus:

Ich glaube, warum Techno die Kraft hat, international zu sein, ist, weil ich sehr schnell bei Techno gemerkt habe, ich werde als Mensch akzeptiert. Mich hat fast noch nie auf deiner Technoveranstaltung jemand gefragt, aus welchem Land kommst Du, was bei anderen Veranstaltungen oder im Bierzelt normal ist: Woher kommst du eigentlich? Das heißt, das Thema, dass du eigentlich ein Fremder bist, gibt es beim Techno nicht.

Diese Erfahrungen machen auch die Musikerinnen und Musiker wie Hannes Bieger weltweit. Plötzlich raven 18-Jährige neben 70-Jährigen. Gemeinsam. United.

Was ich unglaublich toll finde bei Veranstaltungen, bei denen ich Teil bin, einfach auch Randgruppen und marginalisierten Gruppen Freiräume bieten, die sie sonst nicht haben. In Jordanien habe ich mal gespielt, da konnten Leute offen auf dieser Veranstaltung ihr Schwulsein ausleben, was sie sonst nicht können. Und Teil von diesen Events zu sein, wo das möglich ist, ist erstmal eine ganz positive Sache, finde ich.

ENDE