Das Elektra Tonquartier des Bergson Kunstkraftwerk
Gerade erst wurde die Sanierung der 2021 geschlossenen Münchner Philharmonie noch einmal verschoben. Der Neubau des abgespeckten, bayerischen Konzertsaals am Münchner Ostbahnhof ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Die technisch modernen Konzertsäle und Studioräume im Studiobau des Bayerischen Rundfunks sollen demnächst abgerissen werden – fast unbemerkt haben Privatinvestoren in der Zwischenzeit im Münchner Westen ihren eigenen spektakulären Konzertsaal gebaut – im Kunstkraftwerk Bergson. Kritiker sind entweder begeistert oder skeptisch.
Was würden Sie von einem Konzertsaal halten, der praktisch eine Illusion ist? Der Elbphilharmonie sein kann und Frankfurter Oper? Der mal wie der Markusdom von Venedig klingt und dann wieder wie ein kleiner Jazzclub in Detroit? Eine Bruckner-Sinfonie, eine Gabrieli-Motette und danach eine Klaviersonate – alles ist machbar in diesem neuen Konzertsaal im Münchner Westen, sagen die Macher.
Es ist das I-Tüpfelchen auf den größenwahnsinnig klingenden Ambitionen zweier Brüder, die mit Tankstellen reich geworden sind. Und seit fast zwanzig Jahren Geld in dem ehemaligen Heizkraftwerk von Aubing im Münchner Westen versenkt haben für ihr gigantomanisches Ziel: den modernsten Konzertsaal Europas zu bauen. Der sollte ursprünglich einmal als Ausweichquartier für die in Sanierung befindliche Münchner Philharmonie gebaut werden, scheiterte dann aber am Veto der Münchner Konzertveranstalter: Zu weit draußen, kein öffentlicher Nahverkehr. Wer fährt da hin?!
Seit in dem mächtigen Backsteinhaus im April der erste Teil, das Atrium, eröffnet wurde, kommen die Menschen – auch in diesen Münchner Westen – in Scharen. Und die Veranstaltungen in der gigantisch hohen, ehemaligen Heizhalle – Jazzabende, Podiumsdiskussionen, Klaviersoirees – sind ausverkauft.
Zum Gesamt-Kunstkraftwerkkonzept gehört neben der dreistöckigen Galerie für zeitgenössische Kunst und kleineren Ausstellungsräumen ganz oben mit schwindelerregenden Blick seit kurzem nun also auch der Konzertsaal – im Keller.
Ein satter Klang, epische Streicher, triumphierende Bläser, dazu ein ausgeklügeltes Lichtsäulen-Konzept quer durch den abgedunkelten Raum – der neue Konzertsaal, offiziell das „Elektra Tonquartier“ des Bergson Kunstkraftwerkes lässt beim ersten Besuch gleich mehrfach aufhorchen:
Der Klang des 11-köpfigen hauseigenen Bergson Phil‘-Orchesters kommt bei diesem an Filmmusik angelehnten epischen Stück von allen Seiten, von hinten und oben. Ein Klang, der überwältigend wirkt, etwas breiig, ein leicht übersteuertes Dolby-Surround-Kino – ohne Film.
Im nächsten Stück, die Bearbeitung einer Motette des venezianischen Renaissance-Komponisten Giovanni Gabrieli, soll der Hörer sich in den Markusdom, in ein Konzert im berühmten Kirchenschiff versetzt fühlen. Ein Versuch. Doch an den originalen Nachhall von acht bis sechszehn Sekunden kommt der Konzertsaal nicht heran. Noch nicht:
Es wird im Moment noch viel experimentiert und man kann mit den Einstellungen auch übers Ziel hinausschießen.
Sagt Marcus Blome vom Münchner Akustikbüro Müller BBM. Er hat den Klang des Konzertsaals konzipiert, die einzelnen Klangsettings für den Computer programmiert, die für den optimalen Raumklang sorgen sollen. Ob Klaviermatinée oder Jazzkonzert, der Saal kann entsprechend technisch eingestellt werden. Ein Vorläufer davon war im Ausweichquartier der Tonhalle Zürich, der Tonhalle MAAG, verbaut. Diese oder ähnliche Software-Versionen werden mittlerweile bei Neubauten von Konzertsälen oder Sanierung von Opernhäusern, wie der Königlichen Oper Stockholm, gleich mit installiert, erklärt Akustiker Blome. Für alle Fälle. Vor allem für oft akustisch schwierige, zeitgenössische Werke. Die Optimierung im neuen Bergson-Konzertsaal München laufe noch, sagt er:
Wenn ich aus einem Saal, der natürlich nur 0,8 Sekunden Nachhallzeit hat und ich erweitere den, für welchen Zweck auch immer, auf drei, vier Sekunden, also ein Vielfaches von der natürlichen Nachhallzeit, dann passt es erstens nicht mehr zur Optik, weil der Saal das von der Größe nicht ergibt, und das ist technisch dann auch wirklich eine Herausforderung, das dann technisch hinzubekommen.
Das System ist kurz erklärt: Der rechteckige Saal mit seinen gut 12 Metern Höhe und knapp 500 Plätzen wurde praktisch knochentrocken wie ein riesiges Tonstudio, fast ohne jeden Nachhall konzipiert. Auf der Bühne gespielte Musik wird von unzähligen im Saal verbauten Mikrofonen aufgenommen, ein Hochleistungsprozessor errechnet in Echtzeit, was die 80 installierten Lautsprecher an den Wänden und Decken des Raums wiedergeben müssen, um eine Veränderung der Akustik im Saal zu erreichen. Statt mit Dämmplatten oder Akustiksegeln die Akustik künftig über Lautsprecher zu steuern, sei praktisch kein Unterschied, sagt der Akustiker von Müller BBM:
Ich finde es grundsätzlich nicht unlauter, das zu tun, und es ist für den Hörer auch grundsätzlich erstmal kein Unterschied, ob eine Reflexion natürlicherweise erzeugt wird oder aus einem Lautsprecher kommt. Da kann man sich natürlich immer noch darüber streiten, ob die Gesamtakustik
Ist das alles also nur eine Illusion von Klang, ein KI-Konzertsaal, der dem Hörer vorgaukelt, dass er gerade im Markusdom von Venedig Renaissance-Musik hört oder in einem Jazz-Club von Detroit sitzt?
Das wäre genauso als wenn man sagen würde, wir gaukeln die reflektierenden Flächen in der Isarphilharmonie oder in der Elbphilharmonie vor, dass der Raum so klingt, aber ohne diese reflektierenden Flächen klingt er ja gar nicht so.
Verteidigt Bergson-Programmchef Maximilian Maier das hochmoderne Konzept. Ob nun physische Hilfsmittel, wie klangoptimierende Akustiksegel oder Doppelwände, Federpakete oder spezielle Wandpaneele wie in der Elbphilharmonie oder eben technische Hilfsmittel durch Mikrofone und Lautsprecher – das Ziel ist dasselbe, das Ergebnis nicht. Moderne Soundprogramme sind der herkömmlichen Schuhschachtelakustik mittlerweile weit überlegen.
Der Komponist der Premiere des Vivace-Programms, Alexander Unterreiner, hat eigens für den Saal den Eröffnungsabend gestaltet, mit Eigenkompositionen und Werkbearbeitungen für das 11köpfige Orchester. Er müsse nicht anders komponieren als für jeden anderen Saal, meint er:
Man kann da ein ganz normales Orchester reinsetzen und ein ganz normales Programm spielen, man kann den Raum so klingen lassen, wie sie gerade spielen. Das war ja die Grundidee des Raumes, das Stücke oft in einem Raum gespielt werden, der dafür nicht ideal ist. Also wenn eine Jazzband in der Elbphilharmonie spielt, ist das überakustisch. Hier ist das super einfach, denn es ist nicht überakustisch.
Natürlich können Instrumente bei Swing, Jazz oder zeitgenössischen Werken einzeln verstärkt werden, damit spielt Komponist Unterreiner ganz bewusst. Der Saal biete ihm durch das moderne KI- Soundsystem ganz neue, faszinierende Möglichkeiten, betont er:
Nicht die Mikrofone an den Instrumenten, die da ja auch teilweise standen, werden aktiviert, sondern die Mikrofone im Raum, der Raum ist voll mit Mikrofonen und der nimmt den Schall auf und rechnet dann um, wie der Raum klingt wenn man ihn ebben wie einen größeren oder kleineren Raum klingen lassen will. Aber da werden nicht die Instrumente auf der Bühne mikrofoniert, sondern der akustische Klang wird aufgenommen und mit einer bestimmten Nachhallzeit wieder ausgespielt.
Eine der ersten Normalklang-Ensembles im Elektra Tonquartier war das Balthasar-Neumann-Ensemble, spezialisiert auf alte Musik, Barockinstrumente. Die Musiker und Musikerinnen kennen die wichtigsten Konzertsäle der Welt, touren durch Asien, Amerika und Europa. Bei ihnen wurde der Saal mit der Einstellung „Konzertsaal“ auf Philharmonie-Stimmung getrimmt: mit beeindruckender Raum, Trenn- und Tiefenschärfe. Wobei stehen als Ausdruck der neuen Moderne wortwörtlich gemeint ist. Die Orchester stehen beim Spielen.
Als wir da auf der Bühne standen haben wir überhaupt nicht bemerkt, dass sich was für uns verändert hat, erst als ich während der Probenarbeit auch immer mal wieder im Parkett war, um zu hören, wie es von dort klingt und nicht von der Bühne aus, konnte ich sagen, dass es wirklich hervorragend funktioniert hat und das Spielgefühl auf der Bühne überhaupt nicht künstlich wirkte.
Solotrompeter Moritz Görg vom Balthasar-Neumann-Ensemble, spezialisiert auf alte Musik, Barockinstrumente, Originalklang. Die Musiker und Musikerinnen kennen die wichtigsten Konzertsäle der Welt. Dass man sich immer wieder neu auf einen Saal einstellen muss, sei ja gerade der Reiz. Tenor Julian Prégardien bekam für seinen Bach-Abend noch einen extra Hall obendrauf. Am Ende langer Applaus.
ENDE