Folgen der Pandemie: Psychosoziale Probleme der Übertrittsklassen

Noch fünf Wochen, dann sind in Bayern Sommerferien. Knapp zwei Monate haben die Schülerinnen und Schüler dann tatsächlich an ihrer Schule im Präsenzunterricht lernen können. Doch schon jetzt wird klar: Der versäumte Stoff kann nicht aufgeholt werden, die vielen Zusatzangebote vom Freistaat und den Kommunen wie München greifen zu kurz oder sind erst gar nicht bekannt. Vor allem die Übertrittsklassen der 4. und 5. Jahrgangsstufen haben den Sprung auf die weiterführende Schule trotz Pandemie schaffen müssen. Besuch einer 5. Klasse.

Bericht Deutschlandfunk Campus & Karriere

Good Morning, Misses Brand.

Englischstunde am Lion-Feuchtwanger Gymnasium in München-Schwabing. Seit zwei Wochen sitzen die gut zwei Dutzend Schüler und Schülerinnen der 5c wieder im Präsenzunterricht an ihren Einzel- und Zweiertischen. Ein blasses Mädchen in der hinteren Reihe schaut traurig vor sich hin, eine andere Klassenkameradin blättert abwesend durch ihr Heft, die Jungs weiter vorn sind einfach nur glücklich, dass sie in einem Klassenzimmer sitzen und an der Tafel eine richtige Lehrerin steht:

Vorher, als wir zuhause gelernt hatten, war es schlimmer, man konnte sich nicht so richtig auf die Schule konzentrieren, man hatte kein Kontakt zu den Lehrern und zu den Freunden und das war einfach nur schlimm. Auch die Maske ist sehr anstrengend, aber jetzt besser.

Also, es ist schon toll, dass ich wieder in der Schule bin, weil vorher hatten wir viel Lernstoff verpasst, das war nicht so toll … Ja, es geht wieder langsam voran, es ist halt nicht mehr so leicht wie vorher, aber es geht schon langsam wieder.

Also vor allem war es schwierig bei den Videokonferenzen mit Webex, weil ich war in der Notbetreuung und da war das Internet nicht so gut, deswegen kam ich dann auch viel in Englisch und Mathe nicht rein.

Vor gut einem Jahr saßen diese Schülerinnen und Schüler noch im Online- und Wechseluntericht der Grundschule, 4. Klasse, in Bayern das gefürchtete Jahr vor dem Sprung in die weiterführende Schule. Richtig einleben konnten sie sich an der neuen Schule bis heute nicht:

Die ersten Monate waren schon schwierig, man musste halt sich einfach dran gewöhnen, wie man lernt am Gymnasium, man muss eben sehr intensiv lernen und genug lernen.

Ihre Englisch-Lehrerin Brigitte Brand beobachtet mit Sorge die psychischen Auswirkungen der Schulschließungen. Einige Kinder würden im Präsenzunterricht plötzlich anfangen zu weinen, andere dem Unterricht gar nicht folgen.

Mir ist schon auch aufgefallen, dass viele Kinder nicht konzentriert bei der Sache waren, auch bei diesen Wechselunterrichtsphasen, dass so eine gewissen Traurigkeit bei einigen da war, auch noch da ist, wobei ich denke, dass es wieder besser wird, nachdem die Kinder wieder ihren Hobbies nachgehen können.

Während in Spanien seit neuestem morgens eine Stunde Philosophie den Schülern Gelegenheit gibt, über ihre Pandemie-Erfahrungen zu reden, wurde in Bayern zwar Unterrichtsstoff gestrichen, auf die psychischen Folgen der Coronakrise wird aber kaum eingegangen.

Mir persönlich und den Kindern fehlt tatsächlich der persönliche Aspekt. Der Aspekt “Wie geht es Dir?”, “Wie waren Deine letzten Monate?”, “Was kann ich für Dich tun?”

Lerntherapeutin Michaela Kuschel betreut von der ersten bis zur zwölften Klasse alle Altersstufen, auch die 5. Klassen. Sie fängt seit Beginn des Online-, Wechsel- und Distanzunterrichts vor knapp anderthalb Jahren lernschwache und psychisch labile Schülerinnen und Schüler vor allem mit Gesprächstherapien auf. Das komme an den Schulen viel zu kurz:

Ich bin sehr schockiert und die Kinder auch, was derzeit auf sie zurollt an Welle, um Noten zu bekommen, Leistungsabfragen, Leistungseinschätzungen.

Der Druck ist groß: Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder in den Ferien zur Nachhilfe die sogenannte “Sommerschule” des Gymnasiums besuchen

Mein Mutter würde mich gern in den Ferien eine Woche dahin schicken, ich selbst würde es lieber nicht, aber ja, es ist dann wohl so.

In den Ferien werde ich jetzt wohl nicht verreisen, weil es riskant ist, dass es wieder Lockdown gibt und ich dann nicht zurück in Deutschland zur Schule gehen kann. Ich werde auch an einem Förderunterricht teilnehmen, also in der ersten Ferienwoche und in der letzten Ferienwoche hier an der Schule und ansonsten habe ich noch geplant, mit meinen Freunden abzuhängen in den Ferien.

Laut der neuesten Studie der Frankfurter Goethe-Universität seien die Lerndefizite bei jüngeren Schülern durch den Onlineunterricht der letzten Monate besonders stark ausgeprägt, vor allem bei Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Elternhäusern. Und die Effekte dürften sich noch verstärken, da der Lernstoff aufeinander aufbaue, befürchten die Forscher. Lehrkräfte versuchen viele Schularbeiten und Prüfungen noch bis Juli nachzuholen, innerschulische Nachhilfsstunden am Nachmittag sollen helfen, die Lücken zu schließen. Vom Freistaat Bayern wurden zusätzlich 20 Millionen Euro für das Projekt “gemeinsam Brücken bauen” bereitgestellt, das soll für 1500 Extra-Nachhilfestunden reichen. Angesichts von 14 Münchner Gymnasien sei das nur ein politisch guter Wille, kritisiert die Leitung des Lion-Feuchtwanger-Gymnasium. Und bei einem Stundenlohn von 36 Euro brutto, also rund 20 Euro netto, dürften sich nur wenige Nachhilfskräfte finden lassen.

Dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits wieder Wechselunterricht ab Herbst prognostiziert hat, auch diese Nachricht ist in den Schulen inzwischen angekommen:

Alles, wo es darum geht, jetzt einen Plan für September auszulegen, ist unbedingt notwendig.

Sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Ihre klare Ansage:

Wir fordern ein bildungspolitisches Logbuch, klare Szenarien beschrieben. Nach Corona ist vor Corona, sagt die Bundeskanzlerin. Ja, daraus brauchts learnings. Wir brauchen ein sicheres Agieren in einer womöglich noch immer unsicheren Zeit.

ENDE