Gedenkstelen statt Stolpersteine. Der Münchner Weg.

Wie alternative Erinnerungszeichen akzeptiert werden

Man sieht sie in Hamburg und Berlin, in Köln und Brüssel – die kleinen, messingfarbenen Pflastersteine mit Namen und Sterbedatum von Opfern des Nationalsozialismus. In München gibt es diese Stolpersteine nicht, zumindest nicht auf städtischem Grund.

Seit Jahren weigert sich die bayerische Landeshauptstadt und ihre SPD-Oberbürgermeister aus Respekt vor der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch, die kleinen Pflastersteine auf städtischem Grund zu verlegen. Statt Stolpersteinen dürfen Gedenkstelen verwendet werden.

Auf Augenhöhe – Gedenkstele in Schwabing

Bericht im Deutschlandfunk Deutschland Heute

Im hellen Pfarrsaal der Schwabinger Pfarrei Sankt Ursula sitzen an diesem normalen Wochentag zwei Dutzend Menschen in den Stuhlreihen. Es werden verhalten Reden gehalten. In der ersten Reihe eine Angehörige. Ein Vertreter von Oberbürgermeister Dieter Reiter ist da, ein Stadtarchivar spricht einige Worte.

Nikola David, Kantor der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom, singt ein Kaddish wie auf einer normalen jüdischen Trauerfeier. Der Unterschied: Der Verstorbene ist seit fast 80 Jahren tot, erschossen 1941 im litauischen Kaunas. Sein Name: Michael Strich, ein Münchner Historiker, für den nie eine Trauerfeier abgehalten werden konnte.

Ich denke, das Wichtigste ist, dass die Menschen eine Entscheidung getroffen haben, um zu erinnern. Im Judentum ist das Erinnern und Bewahren zwei Säulen, welche wir haben. Und ist es jetzt eine Stele als Erinnerungszeichen oder ist es eine Tafel an der Wand oder die umstrittenen Stolpersteine, welche auch noch nicht in München erlaubt sind, aber an Privathäusern ja schon erlaubt. Ich finde, jede Erinnerung hat seine Erlaubnis und Kontroversen gibt es immer und verschiedene Meinungen, aber Erinnerungskultur zu pflegen ist besonders wichtig heutzutage.

Kritik an den Stelen ist Akzeptanz gewichen

Friedenspromenade 40, Geroltstraße 17, Jutastraße 24, Königinstraße 85 – rund 150 Stelen erinnern mittlerweile im gesamten Münchner Stadtgebiet an jüdische Opfer der NS-Zeit. 2016 löste der Entscheid des Stadtrates noch Spott aus. Gedenkstelen würden zum Vandalismus einladen. Sie seien schwer zu schützen, sie würden im Weg stehen. Dieser Meinung war FDP-Stadtrat Thomas Ranft damals auch, er votierte für die Einführung der Stolpersteine. Heute sitzt er mit im Pfarrsaal der Ursula-Kirche und weiht in Vertretung des Oberbürgermeisters die Erinnerungsstele ein:

Das läuft richtig gut, es wird auch akzeptiert. Wir hatten so ein bisschen die Befürchtung, dass da auch Vandalismus Einzug hält, das ist überhaupt nicht der Fall. Natürlich haben wir eine sehr intensive Diskussion gehabt in der Stadt, Stolpersteine ja oder nein. Die Diskussion hat sich ziemlich beruhigt und es gibt da auch durchaus ein Miteinander.

Vor 70 Jahren wohnte der jüdische Historiker Strich um die Ecke der Schwabinger Ursulakirche, in der Clemensstrasse 41. Sein Nachbar war die Theaterlegende Otto Falckenberg, im selben Haus wohnten die jüdischen Brüder Landauer, Franz und Kurt. Der eine verschleppt und gestorben in Kaunas, der andere nach dem zweiten Weltkrieg Präsident des FC Bayern.

Ich würde sagen, das hat sich in der Bevölkerung etabliert als der Münchner Weg des Gedenkens und Erinnerns.

Ein “Gedenken auf Augenhöhe”

Sagt Stadtarchivar Andreas Heusler.

Anton Biebl, seit Juli 2019 der neue Kulturreferent Münchens schließt sich ihm an:

Was mir dabei ganz wichtig ist: Wenn Sie die Stelen oder Gedenktafeln sehen – wir haben die Möglichkeit, den Opfern ein Gesicht zu geben. Sie sehen das Bild und wir haben auch die Gelegenheit, auf den Tafeln, den Stelen mehr zur Biografie zu beschreiben als es bei Stolpersteinen möglich gewesen wäre…

… Der Stadtrat ist von diesem System auch überzeugt und hat nach der Probephase Geld freigegeben für die weitere Umsetzung von Stelen und Tafeln. (OT Biebl 2)

Ein “Gedenken auf Augenhöhe” – nicht nur faktisch. Bei der Enthüllung der Stelen sind immer auch Mitglieder der Stolperstein-Initiative dabei. So wie Janne Weinzierl, die im Gedenken an den jüdischen Historiker Strich die Debatte erst einmal ruhen lässt:

Freue mich sehr, dass jetzt ein Gedenkzeichen kommt, weil ich auch immer sage: Feindschaft und Auseinandersetzung in diesem Thema ist falsch. Wir müsen zusammenarbeiten. Wir finden es misslich und befremdlich, dass München sich aus dem großen Kunstprojekt für Europa ausklinkt, aber immerhin, es passiert was.

Die schmale, mannshohe Stele wirkt edel an der Jugendstilfassade des Hauses Clemensstrasse 41.

One thing let to the other

Mitten in der kleinen Menge auf dem Bürgersteig steht Angelika Krebs, Enkelin von Michael Strich und Initiatorin der Erinnerungs-Stele.

Da habe ich früher gewohnt. Jetzt lebe ich in Nordirland. Ich lebe schon seit 45 Jahren in Großbritannien.

Die resolute, ältere Frau, elegant gekleidet, ist bei der Zeremonie sehr still geworden. Vor einem Jahr hatte sie das Erinnerungszeichen beantragt, online auf der Webseite der Stadt München.

Während sie redet, rutscht sie immer wieder ins Englische, die Sprache ihrer neuen Heimat:

Nein, das hat nicht lange gedauert, vielleicht ein Jahr. Ich wusste ja davon gar nichts, ich kam erst durch die Stolpersteine darauf und one thing let to the other, eines führte zum anderen, ich habe das dann erfahren und ja, es ist alles wunderbar, aber leider ist es siebzig Jahre etwas zu spät. Das ist what I really feel about it.

Von einer Mitarbeiterin des Stadtarchivs lässt sich die Strich-Enkelin auf einem Tablet die Webseite erklären, wo sie denn nun den Namen ihres Großvaters künftig finden kann und wo alle Münchner Erinnerungszeichen aufgelistet sind:

Einfach Erinnerungszeichen München eingeben, dann kommen sie auf unsere Seite und dann auf Lebenswege, da kommen dann nach Strassen sortiert alle Namen und Biografien.

Und da kann ich dann auf die Namen der anderen Bewohner dieses Hauses klicken?

Nee, die sind im Online-Gedenkbuch. Das ist auch auf der Seite des Stadtarchivs.

Die Enkelin wirkt etwas befremdet. Ein extra Onlinegedenkbuch für diejenigen Opfer, für die noch kein Antrag gestellt wurde. Fast 80 Jahre später Biografien, versteckt hinter Klicks.

In der Clemensstrasse 41 werden zum Schluss Fotos gemacht, ein Polizist sichert die kleine Gruppe ab. Langsam zerstreuen sich die Menschen. Angelika Krebs steht noch einmal vor der blanken Stele mit der vergoldeten, quadratischen Gedenktafel auf Augenhöhe, die in der Form an einen Stolperstein erinnert.

Ich finde diese Initiative sehr gut, ja, aber: Weiterschauen, weiterschauen, nicht damit zufrieden sein. Weil man macht das ja nur, weil das in der Vergangenheit geschah. Vorwärts blicken, das ist meine These. Dass das nicht mehr vorkommt. Das ist das Allerwichtigste.

ENDE