Der fliegende Schlingensief – Wagner-Inszenierung “Fliegender Holländer” am Teatro Amazon, Manaus.

Der Mythos von Manaus, dem wohl exotischsten Opernhaus der Welt, zog seit dessen Gründung 1896 Scharen von zivilisationsmüden Europäern an. Sie wollten ihre Hochkultur in Form von Oper mitten hinein in den wilden Dschungel tragen. Doch der Dschungel kam zur Oper. Lange Jahre stand das verfallene, verwanzte Haus nurmehr als skurriles Symbol mitten in Manaus Altstadt. Bis der aus Sao Paulo stammende Dirigent Luiz Fernando Malheiro 1997 in dem fast 100 Jahre alten Haus auf die Idee kam, ein Opernfestival zu etablieren.

2007 inszenierte Christoph Schlingensief im Rahmen des Festivals Wagners „Fliegender Holländer“, Kooperationspartner sind das Haus der Kunst München und das Goethe-Institut Sao Paulo.

Bericht am 24.4.2007 im ORF (DLF, SWR, NDR, DW)

Dass der CD-Player an jenem Abend immer wieder seinen Geist aufgab, mitten in des Holländers Südwind-Arie, musste am nächtlichen Dschungel liegen, an den Flussgeistern oder an dieser alten Ruine, die vom Regenwald verschlungen wird. Armdicke Wurzeln winden sich durch die Fenster, die Baumkronen drücken das Dach aus den Fugen.

90 Minuten flussaufwärts von Manaus liegt eine magische Kulisse, wie für Schlingensief zurechtgezimmert. Hier ist der Mittelpunkt von Schlingensiefs Wagner-Inszenierung. Ein ehemaliges Kloster und Gefängnis und Leprazentrum. Hier vermodern seit der Eröffnung des Opernfestivals die stierköpfigen Totems von Klaus Kinski und Richard Wagner, hier liegt das verbrannte Totem der Kautschukbarone. Noch vor einigen Wochen sass hier ein ganzes Orchester im Matsch und spielte die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, Christoph Schlingensief dabei emsig an seiner 16mm Bolex-Kamera kurbelnd. Einige Zeit später stand da eine Sambatänzerin für die Filmaufnahmen und hoffte, sich zwischen den Wurzeln nicht die Knöchel zu brechen.

„Wissen sie, ich habe einen Traum. Die Oper. Die große Oper im Dschungel“.

Sagt Klaus Kinski alias Fitzcarraldo im Opernhaus von Manaus, neben ihm Claudia Cardinale, hinter der Filmkamera Werner Herzog. Christoph Schlingensief war da gerade 21 Jahre alt. Jetzt ist die Oper im Dschungel und der Dschungel in der Oper, denn was da so emsig gedreht wurde in den Ruinen, sind die unzähligen Videoinstallationen, mit denen Schlingensief – ähnlich wie in seinem Bayreuther Parsifal – die Handlung des Fliegenden Holländers paraphrasiert.

Da ist Daland, ein Sektenführer, der Pädophilie, Fanatismus und Jungfrauenmord als notwendige Handlungen zur Erlösung sieht. Sein 35mm-Film zeigt ihn, eine schwarze Messe inmitten der Urwaldruine zelebrierend, schwarz-weiss und so unscharf wie die meisten Videoinstallationen der Inszenierung.

Darsteller aus der Favela und Amazonasdörfern

Da sind Antonia und Anesio, sie 84, er 72 Jahre alt, zerfurchte Gesichter, ihre Heimat ist eines der Armenviertel von Manaus. Auf der Bühne stehen sie, ein wenig unsicher, als Menetekel jener Liebesbezeugung, die der Fliegende Holländer ersehnt und doch nie bekommt. Ihr Video von einem Nachmittag in der Hängematte flackert unscharf im Bühnenbild als – ganz klar – Senta dem verfluchten Seemann Treue schwört.

Und da sind die Indianer, die Schlingensief während einer mehrtägigen Dampferfahrt besuchte und die Finanzierung der Inszenierung fast scheitern liess, weil der örtliche Kulturstaatssekretär keine Indios auf der Bühne sehen wollte, auch nicht per Video. Neugierig schauen sie in die Kamera, verschämt, herausfordernd, Kinder, Alte, Mädchen und immer wieder das Zitat aller Schlingensief-Abende, Karin, seine zwergenwüchsige Schauspielerin, ergänzt durch Klaus, in den Rollen des Messdieners und Irren in Korsage. Videos von Fischen auf Menschenleibern, Videos von fressenden Fledermäusen, Videos von schlüpfenden Käfern, Videos vom Blätterdach des Amazonasregenwaldes, dazu der kubistische Film des Oskar Fischinger „Komposition in Blau“.

Drehbühne mit Stacheldrahtzaun

Die Sänger, wie der aus den USA eingeflogene Gary Simpson in der Hauptrolle, der in Wien wohnende Tenor Martin Mühle als Steuermann und die Brasilianerin Eiko Senda als Senta gerieten dabei zwangsläufig in eine undankbare Statistenrolle. Immer im Kreis auf der per Hand geschobenen Drehbühne laufend, durch die Kirchenwände, die Apsis und den stilisierten Kreuzgang des Bühnenbildes. Später im 3. Akt stehen auf der Bühne auch der aus „Atta, Atta“ altbekannte Stacheldrahtzaun samt Wachturm, aber da ist die Inszenierung bereits aus allen Fugen geraten und Schlingensief gibt hinter der Bühne Regieanweisungen.

Nach drei Monaten tropischer Hitze und einem Schlaganfall seiner Mutter im fernen Deutschland gleicht der Regisseur den wuchernden Luftwurzeln seiner Ruine, die sich an alles klammern, was ihnen im Wege steht. Seien es die Sambatänzer, die er in ihren Karnevalskostümen auf die Bühne schickt, die Stierkostüme des traditionellen Boifestivals, seien es die einst so wichtigen Kautschukballen, die beim Chor der Spinnerinnen die Handlung am Amazonas verorten oder auch die Sambatrommeln, die die Pause nach dem zweiten Akt einleiten.

Samba mit Wagner-Klängen

„…die Oper, sie drückt unsere grössten Gefühle aus“, flüsterte damals Kinski alias Fitzcarraldo fanatisch und endete doch nur desillusioniert mit einem Schiff am gerodeten Dschungelabhang. Bei ihm plärrte Caruso vom Grammofon, jetzt ist es der Fliegende Holländer im Opernhaus von Manaus, dem Aussenposten europäischer Hochkultur inmitten tropischer Schwüle.

Vier Stunden gewaltige poetische mit Emotionen aufgeladenen Bilder vom Amazonas, von Indianern, von Sektenführeren und der ständigen Verwandlung des Lebens durch Geburt und Tod – begleitet vom solide dirigierenden Festivalleiter Luiz Fernando Malheiro – diese Flut von magischen Bildern spaltete das Publikum im Schlussapplaus sehr deutlich deutlich. Was den deutschen Besucher an eine Fortsetzung von Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Erlösungsmetapher erinnerte, bedeutete für die Einheimischen eine Aneinanderreihung altbekannter Alltagsbilder.

Als auf der Bühnenleinwand der Amazonas-Dampfer seine endlose Fahrt in die Ferne angetreten hat, flüchtet das brasilianische Publikum aus dem Haus. Der deutsche Gast sitzt noch ein wenig betäubt, ehe er den heruntergekühlten Zuschauerraum verlässt und in den endlos strömenden schwülen Tropenregen tritt.

ENDE