Flächenrebell im Chiemgau. Wie ein Dorf Einfamilienhäuser verhindern will

Rund 12 Hektar Fläche wird in Bayern pro Tag verbraucht. Für Gewerbegebiete, für Wohnsiedlungen, für Straßen und Freizeitangebote. Auf 5 Hektar will der Freistaat den Flächenfraß reduzieren. Nur wie?

Ein kleines Dorf im Chiemgau prescht jetzt vor. Der Bürgermeister hat ein Modellvorhaben durch den Gemeinderat gebracht, das künftig Einfamilienhäuser im Ort verhindern soll. Stattdessen setzt er auf Mehrgenerationenhäuser und Baugruppen. Aber was sagen die Einwohner dazu? (aus aktuellem Anlass)

Bericht im Deutschlandfunk Deutschland Heute 2019

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Wohnen mit wunderbarem Bergblick das gar nicht mehr so attraktiv mehr ist, sondern lieber in den Ort rein, da kann ich zu Fuß Kindergarten, Schule, Bäcker, Metzger. Also die Leute denken um.

Bürgermeister Hans-Jörg Birner klingt euphorisch.

Seit er sein Modellvorhaben „Anders wohnen“ auch außerhalb seines kleinen Ortes Kirchanschöring im Chiemgau vorgestellt hat, wollen immer mehr Kommunalpolitiker wissen, wie das genau funktionieren soll: Keine Einfamilienhäuser mehr zu genehmigen, stattdessen Baugruppen zusammen zu trommeln, die gemeinsam größere Häuser bauen.

Also „Anders wohnen“ das ist für uns eine andere Herangehensweise, wie wir mit dem Wunsch nach Wohneigentum umgehen im Spannungsfeld mit dem thema Flächenverbrauch mit dem wir gerade als ländliche Gemeinden intensiv konfrontiert werden.

Erste Frage: Verprellt man damit nicht Neubürger, die Geld in die Gemeindekasse spülen? Birner kontert: Er sei für seine Bürger verantwortlich und nicht für Zuzügler.

Zweite Frage: Ist dann überhaupt noch eine Ortsentwicklung möglich? Birner lächelt:

Ich sehe das als eine riesige Chance für die Entwicklung des Ortes. Es gibt doch dieses Schlagwort der Donut-Entwicklung. Außenrum eine fette Einfamilienhaussiedlung nach der anderen und innen hat man das Loch. Wir wollen wieder zurück zum Krapfen. Bei uns soll die Marmelade, das Beste, mitten im Dorf sein… Wir sind gerade dabei, Vorkaufsrechtsatzungen zu verabschieden, damit wir ganz wichtige zentrale Punkte, zumindest die Möglichkeit haben, zu gestalten,. Also ganz im Gegenteil: Durch diese Art und Weise werden wir den Ort erheblich vorwärtsbringen.

Wie also Wohneigentum schaffen, ohne die Wiesen und Felder für Einfamilienhäuser zu opfern? Das ist die Frage, die sich Birner und der Gemeinderat vor anderthalb Jahren stellten. Ein Modellvorhaben wurde entwickelt. Mit bunten Grafiken und einfachen Erklärungen anhand von Zeichnungen, damit die Bürger auch mitgenommen werden bei der Umgestaltung des Ortes:

Wir wollen wieder zurück zu diesen ursprünglichen Kubaturen, die die Dörfer ausmachen, diese Baukultur, die hier so typisch ist für die Dörfer. Also große Gebäude, vielleicht einmal ein kleines Zuhaus hat es gegeben, aber diese Einfamilienhäuser, das sind Vorstadtsiedlungen, die in den sechziger, siebziger Jahren aufs Land geschwappt sind. Das hat mit dörflichem Bauen im Grunde nichts zu tun.

Auf 27 Quadratkilometer erstreckt sich der Ort, knapp 3500 Einwohner.

Birner will mit dem Projekt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen könnten sich junge Familien wieder Wohneigentum leisten. Die Nähe zu Salzburg und eine direkte Bahnanbindung hat Kirchanschöring und die umliegenden Gemeinden äusserst attraktiv werden lassen für Städter, die das Landleben suchen. Die Preise für Einfamilienhäuser sind in den vergangenen Jahre auf 500 000 bis 600 000 Euro gestiegen. Der Grundpreis liegt bei 280 Euro pro Quadratmeter, vor einigen Jahren waren es noch 80 Euro pro Quadratmeter.

Zum zweiten reduziert sich der Flächenverbrauch der Gemeinde fast um die Hälfte rechnet der Bürgermeister vor:

Wir haben zur Zeit durch unsere alten Bebauungspläne, wo kein Baugebot drauf war – es gibt ja diese Enkelgrundstücke, die vererbt und vererbt und vererbt werden – verbrauchen wir derzeit mindestens 280 Quadratmeter Siedlungsfläche pro Einwohner. Das muss man sich mal vorstellen. Mit einer normalen Einfamilienhaussiedlung, wo Baugebot drauf ist, können wir auf 230 Quadratmeter runter. Schon etwas besser. Und mit diesen größeren Komplexen, mit den Baugruppen, da kommen wir auf 110 Quadratmeter.

Kirchanschöring liegt mit dem Modellvorhaben auf einer Linie mit der politischen Stimmung im Freistaat. Die Oppositionsparteien drohen noch immer mit einem Volksbegehren, falls der Flächenfraß nicht signifikant abnimmt. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger forderte erst kürzlich beim Runden Tisch zum Flächenverbrauch, dass sich vor allem die privaten Häuslebauer einschränken müssten. Nicht mehr 900 Quadratmeter Grund fürs Heim, sondern 650 oder darunter. Für Kirchanschörings Bürgermeister der falsche Weg:

OT 7: Irgendwann ist auch der Vorteil des Einfamilienhauses weg, wenn ich die Grundstücke immer kleiner mache, dann habe ich irgend so einen kleinen Rasenfleck, mit dem kann ich nichts anfangen, den muss ich pflegen, der Nachbar ist direkt daneben. Da mache ich doch von Haus aus lieber ein großes Gebäude, wo ich meine Rückzugsräume habe, wo ich gezielt soziale Begegnungsräume schaffe. Die Qualität wird erheblich besser, als wenn jeder in so einer kleinen Parzelle wohnt, möglichst noch mit einer Thujenhecke dazwischen, damit ich nicht gestört werde. Wo ist da das soziale Gefüge, das ein Dorf am Leben hält?

Mehr Miteinander im Dorf – ein weiterer Vorteil von Mehrfamilienhäusern.

Helmut Lindner gehört zu einer der Baugruppen, die sich mittlerweile gefunden haben, alles Einheimische. Gemeinsam haben sie ein Grundstück ausgesucht, den Haustyp, bezahlen die Architekten selbst, alles, wie bei einem Einfamilienhaus, nur eben mit mehreren Familien. Einen Bauträger gibt es nicht. Für Helmut Lindner steht die Kostenersparnis an erster Stelle, dann die Flächenersparnis:

Man weiß einfach, dass die Kosten enorm gestiegen sind in den letzten 10-15 Jahren. Angefangen bei den Grundstückspreisen bis hin zu den Bausubstanzpreisen. Da habe ich mir gedacht, das gibt auch jungen Leuten die Chance, sich Wohneigentum zu schaffen. Und das andere ist ja ganz klar: Der Flächenverbrauch.

Vor der Ortssparkasse steht eine junge Frau mit ihrer Tochter. Ja, sie wohnt in Kirchanschöring. Von dem Modellprojekt habe sie noch nicht viel gehört. Was hält sie davon, keine Einfamilienhäuser mehr zu genehmigen?

Nicht viel. Irgendwo müssen wir ja wohnen.

Dann überlegt sie:

Mei, ich finde beides gut. Mehrfamilienhäuser gehören auch gebaut, weil es werden immer mehr Leute, immer mehr. Und irgendwo müssen wir alle wohnen. Aber Einfamilienhäuser sollen natürlich auch gebaut werden, wenn wer eines möchte.

Ein älterer Mann vor seinem alten Bauernhaus aus dem 15. Jahrhundert deutet auf den Friseur ebenerdig. Unten ein Laden, oben Wohnungen, so war es doch immer. Natürlich könne und müsse man wieder mehr Mehrfamilienhäuser bauen:

Ich würde das schon gut finden, weil in Kirchanschöring ist es schon schwer, eine Wohnung zu finden. Ich habe mich selbst schon gefragt, warum sie da nicht mehr bauen, eben höher, dass der Platz ausgenutzt wird.

Außerdem würden die Wohnungen doch günstiger in einem Mehrfamilienhaus, egal ob als Eigentum oder zur Miete als ein Einfamilienhaus, so der Anwohner.

Das Modellvorhaben „Anders wohnen“ wurde vor anderthalb Jahren vom Gemeinderat beschlossen. Jetzt werfen die Kommunalwahlen im März 2020 ihre Schatten voraus. Plötzlich bröckelt die Zustimmung etwas im Gemeinderat. Bürgermeister Birner aber hält an dem Projekt fest. Um Fläche zu sparen.

ENDE