Koloniales Raubgut oder Geschenk? Der Blaue-Reiter-Pfosten aus Kamerun in München

Provenienzforschung vor Ort

Der Blaue Reiter-Pfosten im Münchner Museum Fünf Kontinente. Vorder- und Rückseite

Staunend und erschüttert sei er an den Schnitzereien der Kameruner hängengeblieben, schreibt Franz Marc 1911 an seinen Freund August Macke. Er sei nach dem Studium der Afrikasammlung „schon ein ganz anderer Mensch geworden“. Ein Jahr später, 1912, erschien im Almanach der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« ein Bild von einer dieser Schnitzereien, dem sogenannten »Blaue-Reiter-Pfosten«, einer fast zwei Meter hohen Holzskulptur mit auffälligen Schnitzereien auf der Vorder- und Rückseite, die heute im Münchner Museum Fünf Kontinente ausgestellt ist. Aus welcher Region Kameruns dieser »Blaue-Reiter-Pfosten« genau stammt, wie er erworben oder ob er geraubt wurde durch die deutschen Kolonialherren und deshalb zurückgegeben werden sollte, war bislang unbekannt. Ein im Januar 2022 endendes Forschungsprojekt des Münchner Museums gemeinsam mit den Universitäten Buea und Dschang in Kamerun ist dem nachgegangen.

Der Blaue-Reiter-Pfosten: Provenienzforschung im Herkunftsland Kamerun (deutschlandfunk.de) 27.11.21 Kultur Heute Deutschlandfunk Köln

Bislang kennt der Kameruner Ngome Elvis Nkome nur Fotos von dem Blaue-Reiter-Pfosten, der tausende Kilometer entfernt in München im Museum steht. In seinem Smartphone sind die einzelnen Schnitzereien detailliert zu erkennen, die ihm von der deutschen Leiterin des Forschungsprojektes zugeschickt wurden.

Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass es diese Skulptur gibt. Erst als ich von dem deutsch-kameruner Projekt beauftragt wurde, habe ich mich damit beschäftigt.

Wundert sich der Historiker von der Universität Buea heute über die Unkenntnis der eigenen Kultur.

Schenkung eines Kolonialoffiziers 1896

2019 startete die Provenienzforschung zu der berühmten Skulptur, die bereits im Almanach der Blauen Reiter 1912 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Sie kam durch die Schenkung des Nürnbergers Max von Stetten 1896 ins bayerische Völkerkundemuseum, das heute Museum Fünf Kontinente heißt. Von Stetten war Ende des 19. Jahrhunderts Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe in Kamerun. Von einer seiner Militär-Expeditionen, so vermutete man bisher, könnte er die auffällige, mannshohe Skulptur mitgebracht haben:

Wir konzentrieren uns bei den Nachforschungen auf zwei, drei Hauptgebiete: Einmal die dörflichen Gemeinschaften, die diese Art der Schnitzereien kennen könnten, die uns helfen, mehr über die Herkunft des Blaue-Reiter-Pfostens zu erfahren, aber auch mehr zur Bedeutung der Schnitzereien sagen könnten. Dabei fragen wir anhand der Fotos vor allem in den Ortschaften nach, wo laut den Kolonialakten die deutschen Militär- und Strafexpeditionen durchliefen.

Der Historiker Ngome Elvis Nkome mit der Autorin in Limbe/Westkamerun

Tatsächlich finden sich in den Nationalarchiven von Kameruns Hauptstadt Yaoundé und der Südwestregion Buea zahlreiche Dokumente aus deutscher Zeit, die genau auflisten, wo und wann die Kolonialmacht ihre Truppen in die Dörfer schickte. Seit die Briten Edwin und Shirley Ardener Ende der 50er Jahre in Westkamerun die noch vorhandenen Akten aus deutscher, französischer und britischer Zeit sicherten, gehört das Nationalarchiv von Buea zu den wichtigsten Quellen für die Provenienzforschung. Außerdem reiste Nkome in den vergangenen Monaten mit den Fotos auf seinem Smartphone durch den Westen Kameruns, verschickte die Bilder über die sozialen Medien an Bekannte und Dorfbewohner:

Wir wissen heute sehr genau, dass von Stetten und seine Soldaten auf einer dieser Expeditionen die Skulptur, aber auch die anderen Teile seiner 200 Objekte umfassenden Sammlung, wie die Schmuckhörner und Flöten mitgebracht hat… Woher genau, dazu gibt es verschiedene Informationen. Viele der dörflichen Gemeinschaften im Südwesten wie auch im Nordwesten sagen, dass der Blaue-Reiter-Pfosten aus ihrem Dorf stammt, weil heute noch ähnliche Schnitzereien dort üblich sind. Die einen sagen, das ist ein Türpfosten, andere meinen er war Teil eines Betts oder der Schmuckpfosten eines königlichen Palastes. Die geschnitzten Symbole auf dem Holz gibt es heute noch sehr oft in den Regionen. Es gibt sogar noch ähnliche Objekte.

Geschenk an die deutschen Kolonialherren? Möglich.

Möglich sei auch, so der Kameruner Historiker, dass die Skulptur bereits in vorkolonialer Zeit als Geschenk an die Einheimischen oder als Raubgut aus dem sogenannten Grasland im nördlichen Kamerun in den Süden gelangte. Die Echsensymbole auf dem Pfosten, die Gesichter, die Vierecke und Figuren mit gefalteten Händen seien recht typisch für die heutige Grenzregion zu Nigeria.

Es könnte ein Geschenk gewesen sein, ja, aber aus einem anderen Grund: In vorkolonialer Zeit gab es viele Konflikte zwischen den einzelnen Volksstämmen in Kamerun, diese Skulptur könnte als Raubgut des einen Stammes in den Palast des anderen Stammes gelangt sein, so dass man dieses fremde Objekt gern weiter verschenkte an die Deutschen.

Objekt aus der Kamerun-Sammlung Max von Stetten in München

Wenn das bilaterale Provenienzprojekt zwischen Bayern und Kamerun im Januar 2022 ausläuft, dürfte zwar die Bedeutung, aber nicht die Herkunft des von Franz Marc vor über einhundert Jahren bewunderten Kunstobjektes abschließend geklärt sein, meint Historiker Nkome. Deshalb wünschen sich er und seine vier beteiligten Kollegen von der Universität Buea und der Universität Dschang in Nordwestkamerun eine Verlängerung des Projektes.

Für mich bedeutet die Beschäftigung mit dem Thema die Wiederentdeckung Afrikas in der Diaspora, die Wiederentdeckung unserer afrikanische Kunst, eine Art intellektuelle Erweckung, die uns befähigt, unsere Landesgeschichte neu zu sehen, aus der Perspektive der Kunst – eine ganz andere Art der Geschichtsschreibung.

Allein die Nachforschungen vor Ort, die Befragungen der Bevölkerung, die Beschäftigung mit der Skulptur aus vorkolonialer Zeit hat in den Regionen ein großes Interesse und Neugier auf die eigene Kultur und Identität hervorgerufen.

Nkome fordert die Rückgabe: Der Blaue-Reiter-Pfosten sollte wieder nach Buea zurückkehren.

Im Gegenzug würde ein lokaler Holzbildhauer eine Kopie der Skulptur schaffen. Die könnte dann in München ausgestellt werden.

ENDE