Rezension: Kritische Edition Hitler. “Mein Kampf”, Institut für Zeitgeschichte

Mit Unbehagen und viel Getöse hatte der Freistaat Bayern den 1. Januar 2016 erwartet, der Tag, an dem die Urheberrechte an Adolf Hitlers „Mein Kampf“ auslaufen würden. Seitdem darf das folgenschwere Pamphlet weltweit nachgedruckt werden. Der Freistaat beobachtet geplante Nachdrucke mit Argusaugen und will sich Klagen wegen Volksverhetzung vorbehalten.

Das Münchner Institut für Zeitgeschichte IfZ hat im Januar 2016 die lang erwartete Kritische Edition vorgestellt, deren Finanzierung der Freistaat 2012 abrupt eingestellt hatte. Zwei dicke Bände sind es geworden mit rund 2000 Seiten.

Neben dem Wissenschaftlerteam um Christian Hartmann saß auch der Hitler-Experte Ian Kershaw auf dem Podium.

Bericht im Deutschlandfunk, Kultur Heute, Januar 2016

Da ist es nun.

Das dickleibige Werk. Zwei Bände, in vornehmes graues Leinen gebunden. Packt man die zwei Bücher aus dem Schuber aus, liegen sie schwer in der Hand. Mit den 22 mal 28 Zentimetern Ausmaßen nichts für zwischendurch in der U- oder Straßenbahn. Es erinnert an Brockhaussche Dimensionen. Passend für jede Uni- und Akademikerbibliothek. Eine klassische wissenschaftliche Publikation. Die Präsentation durch Projektleiter Christian Hartmann im Institut für Zeitgeschichte glich denn gestern auch eher einer Vorlesung als einer Pressekonferenz:

Sie sehen hier zunächst einmal den originalen Textcorpus mit der damals auch schon existenten Kopfzeile, dann umgeben, wir sagen manchmal auch umzingelt, von unseren Anmerkungen und schließlich rechts am Rand die Textvarianten von sechs weiteren ausgewählten Auflage, das ist der editorische Hauptteil.

Gut 3800 sorgfältig aus gewählte Anmerkungen

Über 2000 Seiten in 27 Kapiteln haben das sechsköpfige Historikerteam um Christian Hartmann in den vergangenen drei Jahren zusammengeschrieben. 800 davon stammen aus dem Original von Hitlers Hetzschrift. Gut 3800 sorgfältig aus gewählte Anmerkungen stehen neben den heute schwerverständlichen Ergüssen des NSDAP – Parteichefs, in einem noch sorgfältiger gewählten Layout. Neutrale Schrift, keine Fraktur, optisch soll nichts in der kritischen Edition an die millionenfach ans deutsche Volk verteilte Schrift erinnern. Für Bildungspolitiker wie Isabell Zaccharias ist die Veröffentlichung ein großer Tag, vor allem im Hinblick auf den heutigen Rechtsruck in Europa:

Es ist die höchste Zeit, dass wir in allen Schulen Bayerns, in Deutschland, ein Europa ein Unterrichtsmaterial haben, welches den Schüler und Schülerinnen die Möglichkeit bietet, sich mit diesem neonazistischem, rechtem Gedankengut auseinanderzusetzen und dass ein Nie wieder auch nie wieder passiert.

Freistaat wehrte sich gegen Veröffentlichung

Das Unbehagen an einem Nachdruck von “Mein Kampf”, ausgerechnet in Deutschland, ist beiden Behörden im Freistaat groß. Angefangen vom Kultusministerium, bis zum Finanz- und Justizministerium. Auch gestern wie der mussten die Historiker erklären, warum diese Neuauflage nun wichtig ist, warum das folgenreichste Buch des 20. Jahrhunderts mit diesem Aufwand ediert werden musste, trotz massiver Kritik auch von Seiten der jüdischen Opferverbände. Christian Hartmann:

Naja gut, das Buch ist ja vor 90 Jahren entstanden, es geht zunächst erst einmal um Erklärung, es geht aber natürlich auch um Bewertung und Einordnung. Das Problem bei diesem Buch ist ja, es ist nicht nur eine historische Quelle, sondern auch ein Symbol. Und unsere Idee war dieses Symbol ein für allemal abzutragen.

Längst sei das Werk im Internet verfügbar, im Ausland liege es unkommentiert auf dem Grabbeltisch neben Büchern von Mao Tsetung und Lenin. Die Entmystifizierung von Hitlers Hauptwerk sei längst überfällig gewesen, unterstützte gestern der britische Historiker und Hitlerbiograf Ian Kerhaw persönlich seine Münchner Kollegen:

Ich habe seit Jahren die Aufhebung des Veröffentlichungsverbots für längst überfällig betrachtet. Eine Zensur ist in einer freien Gesellschaft auf die Dauer zwecklos und trägt auf die Dauer nur dazu bei, eine negativen Mythos zu schaffen, das Mysteriöse an einem verbotenen Text zu erhöhen und eine unvermeidbare Faszination an dem Unzugänglichen zu erwecken.

Für Schulunterricht weniger wichtig?

Im bayerischen Kultusministerium versucht man die Bedeutung der kritischen Edition für die Schulen herunterzuspielen. Für den Geschichtsunterricht gäbe es längst genügend Material, sagt Ministeriumssprecher Ludwig Unger:

Es ist eine von vielen aussagefähigen Quellen zum Dritten Reich. Das dritte Reich ist ja nicht nur eine Geschichte Hitlers, sondern Hitler steht ja für dieses System der Unterdrückung, aber es war ja kein monolithisches System.

Derzeit werde gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung eine Fortbildung für Multiplikatoren, für Fachbereichsleiter für Geschichte und Sozialkunde vorbereitet, so Unger. Eine Handreichung soll die kritische Edition begleiten. Ob die Schulen nun das Werk anschaffen oder nicht, dass wolle man nicht bestimmen.

Soll “Mein Kampf” in die Klassenzimmer ?

Umfrage unter Münchner Schülerinnen und Schülern:

ENDE